Roy Kieferle: Pionier der Naturkostküche

Als Roy Kieferle in den 1970ern mit Kräutern und Gemüse zu kochen begann, war ein Essen ohne Fleisch kein Essen. Dann kam er 

Text: Daniel Oliver Bachmann Fotos: Henrik Morlock

Wer den Luftkurort Dobel im Nordschwarzwald besucht, darf erst einmal einen Berg erklimmen: Sowohl aus dem Albtal wie aus dem Enztal geht es steil bergauf. Auf der Passhöhe angekommen, prickelt es in der Nase. „Champagnerluft“, sagt meine Begleitung. „Passend zum Wagnerstüble“, ergänze ich, schließlich ist das Restaurant von Roy Kieferle unser Ziel. Zusammen mit dem Pionier der Naturkostküche und seiner Frau Renate wollen wir über alte Zeiten plaudern, als Roy erdulden musste, was wir heute Shitstorm nennen. Denn der, der alles anders macht, macht sich nicht immer beliebt. Der VfB Stuttgart, der DFB und Bayer 04 Leverkusen werden ebenfalls zur Sprache kommen: Schließlich war Roy der erste Koch, der Fußballspielern mit lecker zubereitetem Gemüse und Kräutern neue Kraftquellen erschloss. 

Kräuter, so weit das Auge blickt

Wo fängt man diese Plauderstunde an? Klar, im Kräutergarten. Davon hat Roy Kieferle gleich zwei: einen vor dem Restaurant, einen dahinter. „Minze, Echter Dost, Thymian, Bohnenkraut, Majoran, Salbei, Knoblauchkraut, Liebstöckel“, führt uns der Koch von Töpfchen zu Töpfchen. 76 Lenze hat er auf dem Buckel und wirkt trotzdem wie ein Mann in den besten Jahren. „Weil man ist, was man isst“, lacht er verschmitzt, als ich ihn darauf anspreche. Dabei hätte es durchaus sein können, dass er bereits in jungen Jahren sprichwörtlich den Löffel abgibt. 

In den besagten 1970ern, als Michelin, Varta & Co. seine Küche in den Himmel lobten, ging es dem Mann am Herd immer schlechter. „Ich habe selbst nicht vertragen, was ich den Gästen auftischte“, erinnert er sich. Da kreuzten sich eines Tages seine Wege mit denen des Arztes für Naturheilverfahren Dr. med. Karl Buchleitner. Der hatte soeben erreicht, dass Therapiefreiheit im Zweiten Arzneimittelgesetz verankert wurde, was die Schulmedizin von Grund auf reformierte. Es trafen sich zwei Männer, die sich in einer Sache einig waren: Vieles, was Menschen essen, macht sie krank. Und heißt es nicht, dass der Koch den Arzt ersetzt, wenn er seine Sache gut macht? Das hatte Roy Kieferle im Sinn. Er stellte seine eigene Ernährung um und die seiner Gäste: Vollwertkost hieß von nun an die Devise im Wagnerstüble. Auch Renate Kieferle erinnert sich: „Es dauerte nicht lange, und die Gäste blieben aus.“

An der Spitze der Bewegung

Der Vater von Renate Kieferle, von Haus aus Wagner, hatte das Restaurant als Vesperwirtschaft gegründet und der Einfachheit halber Wagnerstüble genannt. Unter Roys Ägide waren die Gäste der Entwicklung zur gehobenen Küche gerne gefolgt. Mit der neuen Ausrichtung konnten aber die Wenigsten etwas anfangen. Zumal es schwer war, an chemiefreie Lebensmittel zu kommen. „Ich zog durch die Reformhäuser“, erzählt Roy von den steinigen Anfangsjahren, „und versuchte landauf, landab Bauern davon zu überzeugen, für mich biologisches Gemüse anzubauen.“ Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Pionier nicht weiß, dass er an der Spitze einer Bewegung steht. 

Diese Bewegung nahm in den 1980er-Jahren richtig an Fahrt auf. Überall im Land rumorte es: Millionen Menschen gingen gegen Atomkraft und den Bau von Wiederaufbereitungsanlagen auf die Straße. Sie protestierten gegen Raketen und bildeten hunderte Kilometer lange Friedensketten. Die Grünen formierten sich, aus Piratenradios entstanden Privatradios. Die neuen Medien bedienten neue Themen: Umweltschutz war jetzt en vogue und Roy Kieferle auf einmal mittendrin. Wie Tim Mälzer oder Tim Raue heute, war er Gast im Fernsehen, im Radio, in Zeitschriften und Zeitungen. Nur das Internet gab’s noch nicht; dafür dauerten Sendungen oft mehr als zwei Stunden. Genug Zeit für den Pionier, um seine wichtigsten Botschaften unter die Menschen zu bringen: Esst weniger Fleisch und mehr Gemüse. Macht Kräuter ans Essen, weil sie Vitalstoffe spenden und den Stoffwechsel anregen. Und kauft Eure Lebensmittel regional und saisonal. 

Wir sind inzwischen vom Kräutergarten in die Küche gewechselt. Die verrichtet seit den turbulenten Zeiten gute Dienste. Roy kocht nach wie vor mit Gas, und seine Töpfe und Pfannen können Geschichten erzählen aus Tausendundeiner Kochnacht. „Sag mal, Roy, wie viele Messer braucht ein Koch?“, will ich wissen, nachdem der Kräuterpapst erklärte, dass man Kräuter niemals hackt, sondern schneidet. „Eine Handvoll reicht. Dazu einen ordentlichen Wetzstahl“, erhalte ich als Antwort. Viele Sätze des Pioniers lassen sich in Stein meißeln. „Keine Autoritätskleidung in meiner Küche“ lautet einer. „Für Schnittlauch muss man sich nicht schämen“ ein anderer. Auch davon steckt ein Bündel im Kräuterstrauß, der nun seiner Verwendung zugeführt wird. Wir wollen schließlich regionale und saisonale Naturkost genießen: Mit einer Kartoffelpfanne mit Kräutern, Semmelknödel mit frisch gesammelten Pfifferlingen und glasiertem Apfelpfannkuchen mit Vanilleeis. In Roy Kieferles Küche gibt es kein „auf“ oder „bei“ oder „an“, sondern immer ein „mit“, weil jeder Teil des Gerichts eine gleichberechtigte Rolle spielt. 

Eine Pfanne, tausende Pfannkuchen

Inzwischen duftet es köstlich nach Kräutern, und als der Koch einige Zeit später zur Pfannkuchenpfanne greift, schwebt Nostalgie durch die Küche: „Mit der habe ich tausende Pfannkuchen gebacken“, sagt Roy, wirft die Objekte meiner Begierde hoch in die Luft und fängt sie mit der Pfanne wieder auf. Als rühriger Pionier der neuen Naturvitalküche zog er mit Pfanne und Pfannkuchenteig durch die Schulen des Landes. Er talkte sich durch Talkshows und überzeugte erst Christoph Daum und danach weitere Fußballtrainer von der Notwendigkeit vom gesunden Essen für Sportler. Als gutes Vorbild schnürte er seine Kickerstiefel für die Deutsche Nationalmannschaft der Spitzenköche. Irgendwann überließ Roy Kieferle die Hatz durch Fernsehstudios den anderen, blieb aber dem geschriebenen Wort treu: Eine seiner Kolumnen in einer Tageszeitung verfasst er seit 35 Jahren – noch ein Rekord. 

Wir sind in die gemütliche Gaststube umgezogen. Wann hat man schon die Gelegenheit, mit einem Mann der ersten Stunde zu kochen und zu essen? „Du könntest dich zurücklehnen und sagen, ich hab’s schon immer gewusst“, sage ich. Zurücklehnen ist aber Roy Kieferles Sache nicht, und Besserwisserei schon gar nicht. 

Besserwisserei? Nein, danke

Zwar ist die Naturkostküche inzwischen in der Gesellschaft verankert – doch nur in einem Teil. Der andere wählt nach wie vor günstiges Fleisch, das gar nicht günstig ist, rechnet man den zur Herstellung nötigen Flächen- und Wasserverbrauch sowie die CO2-Produktion mit ein. Mangelnde Versorgung mit regionalen und saisonalen Lebensmitteln sind Schlagworte, die das Pionierblut von Roy Kieferle nach wie vor in Wallung bringen. Dabei schmeckt seine Naturkostküche gut und tut gut: Auf diesen einfachen Nenner lässt sich ein Besuch im Wagnerstüble bringen. Der für uns an diesem Tag noch recht lange dauert, da wir viel über alte und neue Zeiten zu sprechen haben. Dabei wird herzlich gelacht, denn auch das zeichnet die Gastleute Roy und Renate Kieferle aus: Bei ihnen geht es sehr fröhlich zu. Ob die Champagner-Luft von Dobel dazu beiträgt? 

Appetit auf Kräuter und Gemüse?

Restaurant Wagnerstüble
Wildbader Straße 45/1 Dobel
Tel. 0 70 83/87 58
Öffnungszeiten: Fr–So 12–14, Fr/Sa ab 18.30 Uhr
www.wagnerstueble.de 

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