Retro Games: Auf Zeitreise in der Vergangenheit

Nur draußen war unser Chef Ulf Tietge in seiner Jugend nicht. Der Trip zu Retro Games war für ihn daher auch eine Reise in die eigene Vergangenheit

Text: Ulf Tietge · Fotos: Jigal Fichtner

Der Weg ins Gestern führt durch ein ziemlich dunkles Treppenhaus im Nordwesten von Karlsruhe. Mühlburgs Industriegebiet. Unweit vom Karlsruher Rheinhafen. Diese trostlose Gegend ist nun wirklich nicht als touristischer Hotspot bekannt – aber für uns verbirgt sich hier ein echter Geheimtipp. Das Dorado der Daddler. Ein Paradies für Pixelschubser und Flipperfreunde. Eine Zeitmaschine in die eigene Jugend, installiert, gepflegt und gewartet von den 102 Mitgliedern des Vereins Retro Games.

So original wie möglich

Retro Games gibt es seit 2002. In diesen 18 Jahren haben die Nerds eine beeindruckende Sammlung zusammenbekommen, die in den Vereinsräumen eben nicht nur bestaunt und bewundert, sondern auch volle Kanone bespielt werden kann. Wenn nicht gerade eine Pandemie aus Fernost zu überstehen ist, stehen samstags und jeden ersten Dienstag im Monat 30 Konsolen, neun große Flipper und 69 Automaten bereit. Geld einwerfen? Nicht nötig. Für fünf Euro Eintritt gibt es unbegrenzt viele Freispiele.

Der Aufwand, den die Mitglieder dafür betreiben, ist immens. „Ein bis zwei Geräte fallen jeden Abend aus“, sagt Vorstand Benedikt Gerstner. Die Flipper mit ihren vielen mechanischen Teilen sind besonders anfällig – dafür dauert bei den Arcade-Automaten die Fehlersuche mitunter ewig. „Hinzu kommt, dass Ersatzteile kaum zu bekommen sind“, sagt Bene. „Bei dem da vorn ist neulich das Lenkrad gebrochen. Um das zu reparieren, haben wir ein neues Gewinde schneiden müssen.“

Für Bene und seine Nerds (fast jeder hier macht beruflich irgendwas mit IT) ist es wichtig, die Geräte so original wie möglich zu belassen. Die alten Röhrenbildschirme sind noch drin, die Patina ist echt und genau das bringt Kinder wie Erwachsene dazu, ihre Handys für Stunden zu vergessen. „Wir haben viele Kindergeburtstage“, sagt Bene. „Aber wir öffnen auch für Firmenveranstaltungen, Weihnachtsfeiern oder Junggesellenabschiede.“

Lehrstunde am Flipper

Bevor wir voller Freude mit den Laserpistolen auf Terminator-Jagd gehen, treffen wir Dominik Wilde. 29 Jahre jung, Kopfhörer über den Ohren und auf High-Score-Jagd am Indiana-Jones-Flipper. 

In der German Pinball Association rangiert er in den Top 50, regelmäßig ist er bei großen Turnieren dabei. „Das nächste Mal wäre in Gifhorn gewesen, fällt wegen Corona aber aus“, sagt er. „200 Flipper und 200 Flipper-Begeisterte auf engstem Raum – das ist wie ein Familientreffen.“ Für Dominik gilt das gleich im doppelten Sinne, denn er hat seine Freundin bei genau so einem Event kennengelernt. Ramona heißt die junge Dame, ist bildhübsch, kommt aus München, steht (natürlich) auch gern am Flipper und ist die Tochter von Martin Wiest, dem Vize-Präsidenten der German Pinball Association. Wenn man so will: die Tamara Ecclestone der Flipper-Welt …

Dominik ist seit 2010 im Verein. Der Terminator und die Adams Family (übrigens der kommerziell erfolgreichste Flipper aller Zeiten) sind seine Lieblingsgeräte und auf genau dem wollen wir gegen die flinkesten Flipper-Finger Karlsruhes doch jetzt mal antreten. Während Dominik mit seinen Kopfhörern um den Hals ganz entspannt die erste Edelstahlkugel ins Spiel bringt, verrät er uns noch, wie es die Profis machen. „Das Geheimnis liegt darin, dass man wissen muss, wo die wichtigsten Punkte zu holen sind“, sagt Dominik und holt nach handgestoppten acht Sekunden die erste Million Punkte. „Für jeden Flipper gibt es online Instruction-Cards. Wenn Du Dir die durchliest, weißt Du auch, wohin du zielen musst.“ Diverse Multi-Bälle und fünf Minuten später, rauscht die Kugel dann doch zwischen den Flipperhebeln hindurch. Score nach dem ersten Ball: 27 Millionen. Fast unnötig zu erwähnen, dass bei mir nach 400 000 Punkten Game Over ist … Riecht nach einer Revanche! 

Eine Zeitreise 

Vorher aber geht es für Fotograf Jigal und mich zu den Endgegnern unserer Schulzeit. Denn natürlich sind auch wir mit Sim City und Tekken aufgewachsen, mit Kaiser und Ports of Call, mit Dogs of War, dem Bundesliga-Manager und den tollen Spielautomaten, die man in ausländischen Hotels fand. Ewig schade, dass in Deutschland ab 1986 auch Geschicklichkeitsspiele unters Glücksspielgesetz fielen. Ob einarmiger Bandit oder Need for Speed: in Deutschland alles erst ab 18. 

Von daher haben wir jetzt dringend etwas nachzuholen! Wir müssen die Welt vor Aliens und Zombies retten, donnern auf Mopeds durch San Francisco, schubsen uns in Sportwagen gegenseitig von der Piste, spielen Kampfpilot und Panzerfahrer. Politisch völlig unkorrekt – aber sehr erheiternd. Und viel kommunikativer, als wenn jeder für sich auf einem 5-Zoll-Bildschirm daddeln würde. Wir lachen und fluchen, wir schießen und laden nach, wir sprinten und springen – und sind plötzlich ganz weit weg vom Alltag. Kurzum: Es ist wundervoll!

Die DDR lässt grüßen

Man hat das Gefühl, es gibt hier alles. Tetris natürlich. Den Terminator. Pacman, Frogger, Asteroid, Hang-on, Tron und Donkey Kong. Dazu Konsolen: von der Odissey über den Sega Megadrive (legendär mit Sonic II), von der ersten X-Box über Amiga und C64 bis zum Gameboy. Im Raum nebendran stehen die musealen Relikte vergangener Zeiten. Der Polyplay zum Beispiel, der einzige Spielautomat, den die Genossen der DDR je zusammengeschraubt haben. Technisch sehr simpel und inhaltlich ziemlich abgekupfert. Fuchs und Hase läuft auf der Maschine – und erinnert enorm an Pacman in schwarz-weiß.

Ein paar Meter weiter steht ein ganz besonderer Oldtimer: ein Gotcha aus dem Jahr 1973 (zu sehen auf dem runden Foto oben) mit seiner Pixeljagd durch ein Schwarz-Weiß-Labyrinth. Technisch war das damals ziemlich anspruchsvoll. Und die Kiste sieht aus, als wäre sie direkt der Raumpatrouille Orion entsprungen. Dennoch hatte Gotcha einen ganz schweren Stand gegen das viel populärere Pong, bei dem wie beim Tischtennis ein Ball aus Pixeln mit zwei virtuellen Schlägern hin und her pongt.

Wir aber haben noch eine Rechnung offen. Mit Dominik, dem Flipper-König von Karlsruhe. Und ob ihr es glaubt oder nicht: Am Ende gewinne ich nicht nur an Erfahrung … Ka-Ching! Es lebe das Glück der Ahnungslosen!

Mehr Informationen
Retro Games e.V.
Gablonzer Straße 11 · 76185 Karlsruhe
Telefon: 07 21/ 66 53 06 55
Öffnungszeiten aktuell: www.retrogames.info

Der Auftrag

Retro Games ist ein Arcade-Museum mit ständiger Ausstellung betriebsbereiter klassischer Arcade-Automaten, Videospielkonsolen und Flipper in Karlsruhe, das vom gleichnamigen Verein betrieben wird und Teil der Retrogaming-Bewegung ist. Retro Games ist Deutschlands erster und einziger eingetragener Verein zur Erhaltung und Pflege der Videospielkultur. Gegründet wurde Retro Games im Jahr 2002 aus Ärger darüber, dass die Entwicklungsgeschichte der Videospielkultur seit den 1950er-Jahren bis heute kaum bekannt ist. Zudem wird sowohl in Deutschland als auch weltweit wenig bis nichts zum Erhalt klassischer Videospielgeräte getan. Teilweise existieren daher nur noch wenig funktionsfähige Geräte als Zeugen dieser Zeitgeschichte.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 20 (3/2020)

Wir entdecken den Schwarzwald neu, kochen Spargel, lernen das Überleben unter Tannen und messen uns mit Gegnern von gestern. 

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

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