Fotokunst: Ein neuer Blick auf die Heimat

Die Fotokünstlerin Michaela Kindle sieht ihre Heimat mit ganz eigenen Augen – wohl gerade auch, weil sie lange weg war

Text: Stephan Fuhrer · Fotos: Jigal Fichtner

Heimat entsteht in der Fremde, sagte ein kluger Schweizer Schreiberling einmal. Bei Michaela Kindle trifft das sicherlich zu. In Freiburg aufgewachsen, blieb sie nach einem Au-pair-Aufenthalt in den USA hängen. Zunächst Florida, dann Kalifornien – für die junge Frau war das eine neue Welt. Der Schwarzwald war ihr zuletzt so bieder vorgekommen. Und von L. A. aus betrachtet sowieso.

Bollenhutkitsch und verstaubte Klischees auf der einen Seite. Die glitzernde Welt der vermeintlich unendlichen Möglichkeiten auf der anderen. Die Entscheidung, zu bleiben, fiel leicht. Das Studium zur Hotelmanagerin schmiss sie hin und entdeckte für sich die Fotografie. Dann packte Michaela doch irgendwann das Heimweh, sie kehrte zurück – und entdeckte ihre Heimat mit ganz neuen Augen …

Kreative Einöde

Mehr als zehn Jahre ist das jetzt her. Heute empfängt uns die Fotokünstlerin auf dem Simonswälder Wisdishof, bereits seit längerem ein kleiner Hotspot regionaler Kunstschaffender. Mehr Schwarzwald als hier geht nicht. Wild geschwungen und mächtig steil zieht sich unterhalb des großen Hofs die Straße in die Höhe. Hinter saftigen Wiesen erheben sich hohe Tannen, die mit ihren Wipfeln die Wolken zu kitzeln scheinen. Hier, bei Thomas Kaltenbach – rund um Simonswald auch bekannt als Sympathiedoktor und Warzenheiler – und einigen weiteren Kreativschaffenden, hat die Fotokünstlerin in einem Leibgedinge ihre Arbeiten ausgestellt. Und hier, in dem entkernten Haus, entstehen auch immer wieder neue.

Alles eine Frage der Zeit

Als erstes empfängt uns ein Schwarzwälder in schlichter Tracht an der Wand, vorangestellt an eine alte Tapete mit grellen Blumen. Von oben hängen Taschenuhren in die Szenerie. Eines hängt wie ein Monokel über dem Auge des Mannes, für den der Hofbesitzer Model stand. Die Zeiger zeigen fünf vor zwölf. Und überhaupt sind Uhren und die Zeit ein wiederkehrendes Symbol in Michaelas Collagen, in denen Schwarzwaldsymbolik und -szenerien immer wieder mit knalligen Farben und skurrilen Überzeichnungen verschwimmen. „Zeit ist der Rahmen unseres Daseins“, meint Michaela dazu. „Innerhalb dessen haben wir die Wahl, was wir daraus machen.“

Die Künstlerin selbst hat in den vergangenen Jahren eine Menge daraus gemacht. Zurück im Schwarzwald schaute sie genauer auf ihre Heimat – und entdeckte Dinge, die ihr zuvor nie aufgefallen waren. Das gefiel ihr. „Früher waren Trachten zum Beispiel für mich einfach nur da. Als ich zurückkam, habe ich dann mal genauer hingeschaut“, erzählt sie. Woher kommen sie eigentlich? Und was bedeuten die Details?

Aus Altem Neues zusammensetzen

In ihren Arbeiten vermischten sich dann Michaelas Welten. Auf der einen Seite die kleine Schwarzwaldkapelle, daneben ein Hotel-Schild in leuchtenden Lettern – ganz so, wie man es auch in Las Vegas finden könnte. Hinter Schwarzwaldbergen türmen sich Riesenräder und das Freiburger Martinstor wird zum Skyscraper.

Alles scheint auch ein bisschen wie bei Alice im Wunderland. Etwa die vielen Zifferblätter in den Arbeiten oder die kleinen Papierschmetterlinge, mit denen die Wände des Leibgedinges übersät sind. Tatsächlich habe sie das Buch von Lewis Carroll mitinspiriert, sagt Michaela. Aus dem, was da ist, Fragmente nehmen und daraus wieder was Neues bauen – das sei das Wesen ihrer Arbeit. „Im Prinzip hat sich das alles auch einfach irgendwie ergeben“, erzählt die Freiburgerin und muss selber schmunzeln. Künstlerin zu werden, war eigentlich nie ihre Absicht.

Jetzt aber mal raus aus dem dunklen Gebäude. Wir machen noch einen Spaziergang. Nicht ohne Grund, natürlich. Denn hier oben auf dem Wisdishof, wo sich in Nicht-Corona-Zeiten all jährlich auch das kleine Kunstfestival Art Wisdis etabliert hat, ist Kunst allgegenwärtig. Michaela hat den Lockdown genutzt, um eine Installation im Freien zu schaffen. Der Titel: Wie lange ist für immer? (frei nach Lewis Caroll). Und da ist sie dann auch wieder, die Zeit. Da hängen Uhren und Sprechblasen an Bäumen oder es stehen bemooste Stühle auf grünen Wiesen. Die Installationen brechen das Landschaftsbild und gehen doch irgendwie wieder darin auf. Die echten Gegenstände sind Spenden von Einheimischen.

Die offensichtlichste Station ist allerdings der Wunschbaum. Mittlerweile hängen hier wohl einige hundert Wünsche von Ausstellungsbesuchern. Von „Liebe“ bis zum „Urlaub in einer schönen Finca auf Mallorca“ – was man sich halt in diesen Zeiten so ersehnt. Von „Frieden“ bis zur „Meisterschaft für Schalke 04“. Michaela steht unterm Baum und muss lachen. Kunst müsse ja auch nicht immer bitterernst sein. „Aber echt“, sagt sie noch.

Viele weitere Motive findet Ihr auf Michaelas Internetseite www.kindle-photography.de

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