Der Schwarzwald-Schamane

Man muss nicht gleich nach Peru, um sich dem Schamanismus hinzugeben. Auch auf dem Löcherberg geht das: wenn man Konrad Stiefvater an seiner Seite hat

Text: Pascal Cames · Fotos: Jigal Fichtner

Hoch oben in den staubigen Ebenen Zentralasiens. Auf den grünen Höhen der Anden. Im feuchten Dschungel Mittelamerikas – überall dort, wo Menschen noch in Stämmen leben, gibt es sie noch: die Schamanen. Sie sind Heiler, Mediziner, Psychologen, Gurus und Grenzgänger zwischen dieser und einer anderen Welt. Sie tragen Federn, verhüllen ihre Gesichter, schmieren sich mit Tierfett ein und holen alte, vergessene Laute aus ihrer Kehle. Und sie trommeln. Wenn’s sein muss die ganze Nacht. Aber gibt es so jemanden tatsächlich auch im Schwarzwald? Ist Konrad Stiefvater auch so einer? Der 53-jährige Ortenauer sagt „ja“…

Schamane mit badischer Zunge

Wie ein mexikanischer Bauer im weißen Leinenhemd sitzt Konrad in seinem Stuhl. Vor sich auf dem Schreibtisch stehen Dutzende von kleinen Gebinden mit Globuli, in den Regalen reihen sich die Medizinbücher. Als einzigen Schmuck trägt er eine Jadekette mit einem goldenen Jaguarkopf. Das Haar ist halblang, seine Gesichtsfarbe lässt auf Indio oder einfach nur viel draußen schließen. Sein Zungenschlag aber verrät ihn: badisch. Konrad erzählt von seiner lebenslangen Liebe zum Wald und wie er über Umwege und Krisen von der Datenverarbeitung zum Heilpraktiker und dadurch mit dem Schamanismus in Berührung kam. „Das lief immer so mit“, sagt er und schwärmt von seiner Zeit in Mittelamerika, wo das Schamanentum noch lebendig ist. Es muss eine gute Zeit gewesen sein, die sich mindestens so tief in sein Wesen eingegraben hat, wie die senkrecht verlaufenden Falten in sein Gesicht. Beim Erzählen wirkt Konrad manchmal wie ein Narr, dann wieder wie ein König. Er referiert, doziert, erklärt. „Alles ist lebendig, alles hat Energie – das Wasser, die Bäume, die Steine!“ Wie um das zu bestätigen, fällt ihm ein Stein aus der Hand und laut krachend auf den Boden. Er zeigt auf einen Steinhügel neben seiner Offenburger Eingangstür. „Das ist eine Apacheta“, erklärt er. Die stehe in direkter Verbindung mit Machu Picchu. Damit der Kontakt zur legendären Festung der letzten Inka nicht abreißt und die Kraft bewahrt bleibt, muss Konrad sie hegen und pflegen. Das heißt: auch mal Blumen und Blüten dazulegen. Oder einen neuen Stein.

Von Amerika auf den Löcherberg

Apropos. Es gibt auch noch andere Steine, die mindestens genauso wichtig für ihn sind. Zum Beispiel im Geotop Heidenkirche auf dem Löcherberg. Dort geht er mit Patienten auf Visionsreise und trommelt die halbe Nacht. Diese Rituale hat er aus Amerika mitgebracht, seine Einflüsse stammen von den Inka aus den Anden, den Mayas aus Mittelamerika und den Schwarzfußindianern aus der Prärie. All das kommt hier zusammen, mitten zwischen dem dunklen Tann des Schwarzwalds. Wir stehen dann auch mal auf dem Bergrücken Löcherberg, der das Harmersbach- vom Renchtal trennt. Das Licht fällt schräg durch die Baumkronen und färbt das schwebende Laub golden. Wir marschieren zur uralten Steinformation Heidenkirche, die sich links und rechts des Wanderwegs zieht. Zufällig hat ein Fels die Form einer Pyramide. Einige wie von Riesen gestapelte Findlinge lassen an eine Kirche denken. Durch Moose und Farne erscheint der magische Ort fast tropisch. Zwischen den schmalen Felsgängen kann man sich wie in einem Labyrinth verlaufen, dabei wechselt man schnell die Ebene und schaut von oben in die Felsgänge. Der Blick fällt auf eine von der Sonne beschienene Stelle. Da stehe ich. Gleich wird Konrad, der Schamane den „heiligen Raum“ öffnen. „Man muss ihn öffnen und später wieder schließen“, sagt er. Das ist das Ritual. Alles hat seine Ordnung. So, wie ich bin, kann ich allerdings noch nicht in die Untere Welt. Erst muss ich gereinigt werden. Ich höre Konrads Geraune, aus dem Silben zu Wörtern verschmelzen und doch irgendwie wie Gemurmel klingen. Ein seltsamer Duft steigt mir in die Nase, der mich an den Weihrauch meiner Kindheit erinnert. Der Schwarzwald- Schamane steht neben mir und seine Hände sind so nah an meinem Körper, dass ich nicht genauso sagen kann, ob er mich berührt oder nicht. Konrad steht auf einem Stein, er wirkt riesig. Wie ein biblischer Prophet spricht er in alle vier Himmelsrichtungen. Dabei schüttelt er die Rassel und bläst auf einem Flaschenhals. Es klingt wie ein Schiff im Nebel. In jede Himmelsrichtung sagt er einen Spruch und spricht ein Tier an. Die Schlange ist im Süden, der Kolibri im Norden, im Osten hat der Kondor den Überblick und im Westen ist der Jaguar der große Reiniger. Nach jedem Spruch nimmt er einen Schluck von einem mittelamerikanischen Gebräu und speit ihn sogleich wieder aus. Für Mutter Erde. Die Flüssigkeit glänzt wie ein Sternregen. Er trommelt, singt, schwitzt. Der heilige Raum ist geöffnet, stellt er fest. Ich bin bereit und lege mich auf die von Indios geknüpfte Decke. Ich höre und folge Konrads Worten, die mich in einen Baum führen. Ich bin viel jünger, fast noch ein Kind, stelle ich fest. Der Baum öffnet sich. Als ich eintrete und nach oben blicke, kann ich kein Ende sehen. Konrad sagt, dass ich einsinken werde. Und richtig: Nach und nach verschwinde ich von der Erdoberfläche. Füße, Knöchel, Knie – alles weg. Dann auch noch Brust und Kopf. Ich denke mir nichts Böses und vertraue dann mal auf Konrad …

Leuchtende Würfel zum Mitnehmen

Als ich vor dem Wächter „Huesca“ stehe, halb Mensch und halb Tier, fröstelt es mich nicht. Darf ich eintreten? Der Wächter sagt nicht Ja und nicht Nein. Da ich eine Antwort brauche, gebe ich sie mir selbst. Wie abgemacht hebe ich die rechte Hand als Zeichen und betrete einen schmalen, unendlich langen Garten unterhalb einer grau-schwarzen Felswand. Diese Wand klettere ich hinauf, oben erwarten mich vier Türen. Die erste, sie ist aus Holz, darf ich nur öffnen. Es ist „die Kammer der Wunden“. Ich kann mir schon denken, was drin ist. Ich schaue lange hinein. Hinter der letzten Tür erwarten mich Geschenke, leuchtende Würfel, die ich mitnehmen darf. Diese gehen später in meinen Körper über. Dann erscheint ein Tier neben mir, es ist mein Krafttier, das mich von nun an nicht mehr verlassen wird … Als ich wieder aufwache, reden wir eine Weile über das Erlebte. Die Untere Welt wäre vergleichbar mit meinem Unterbewusstsein Konrad hat mir zweimal die Entscheidung überlassen, einmal beim Wächter und bei der ersten Tür. Ich hätte nicht durchgehen und auch nicht in die Wundenkammer blicken müssen. Nicht jeder verkraftet das. Er hat schon erlebt, dass Leute schreien oder weinen. Es geht darum, Verletzungen, Kummer und Trauer zu lösen, Ordnung zu schaffen und sich zu reinigen. Oftmals würde man Gefühle mit sich tragen, obwohl der Zustand gar nicht mehr da wäre. Mit dem gleichen Ritual schließt der Schamane den heiligen Raum. Als wir auf dem Waldweg zurückgehen, erzählt mir Konrad von seinem Krafttier, einem Jaguar, der ihn auf Schritt und Tritt begleitet. Natürlich auch jetzt. Er schaut nach rechts und ich meine die Anwesenheit der Katze zu spüren. Nein, eigentlich sind es zwei …

Übrigens: Diese Visionsreise fand ohne Hilfe von Drogen statt.

Weltenöffner

Schamanen gibt es auf der ganzen Welt. Die „echten“ im eigentlichen Wortsinn stammen aber aus Sibirien. Allerdings steht die Bezeichnung längst als Sammelbegriff für Menschen mit besonderen Fähigkeiten aus unterschiedlichsten spirituellen und religiösen Bereichen – für Medizinmänner, Vermittler zur Geisterwelt oder Magier. In vielen schriftlosen Kulturen Amerikas, Asiens oder Australiens gelten sie auch als Bewahrer des Wissens.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 14 (1/2019)

Wir stellen fest: Es gibt tatsächlich Schamanen im Schwarzwald. Außerdem sind wir auf Trüffeljagd und ein Wochenende in Straßburg. Natürlich wird auch wieder geschlemmt: Wir präsentieren Euch Badens beste Knödel und leckere Ideen für die Mittagspause. 

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

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