Der Grand Canyon des Schwarzwalds

Die Wutachschlucht. Ein Name, 1000 Geschichten. Ranger Martin Schwenninger kennt viele davon. Wir sind mit ihm durch den Schwarzwald-Canyon gewandert

Text: Pascal Cames · Fotos: Jigal Fichtner

Fast 500 Meter entfernt trottet ein Bär in den Wald. Er muss wohl sehr groß sein, denn er ist noch gut zu erkennen. Die grasenden Mammuts lassen sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen … Klingt nach Ice Age im Kino, ist aber aus dem Schwarzwald. In echt. Nur halt vor einigen zehntausend Jahren …

Der studierte Förster Martin Schwenninger (62) kann die Geschichte der Wutach aus dem Effeff erzählen. Zudem kennt der Wutach-Ranger jeden Stein und jeden Weg – aber nicht immer. Denn durch Hochwasser passiert eine Menge. Holzbrücken werden zu Kleinholz, Felsen gesprengt, Bäume herausgerissen, Wege unterspült oder unter Erdrutschen begraben. „Das macht es auch spannend“, sagt er auf eine gemütliche Art, als würde er von einem Fernsehabend mit zwei Filmen erzählen. Der Ranger spaziert den Feldweg bergab, begleitet von neugierigen Blicken von der Kuhweide. Von Mammuts keine Spur.

Alles ist in Bewegung

Der Feldweg wird zum Waldweg und schon ist linkes eine Absperrung. Zwischen Stämmen, Ästen und Blättern entdecken wir eine Steinmauer. Hier hausten Ritter! Die Burg Neu- Tannegg (aka Burg Boll) war eine von vielen Festungen an der Wutach, um Gebiete zu sichern, Zölle zu erheben, Bauern auszupressen, zu beschützen oder auszurauben. Genauso bewegt zeigt sich die Erde. Bereits im Mittelalter wurden in der Burg Risse im Boden entdeckt, die sich von dort die Mauern hochzogen und später abstürzen sollten. Heute noch brechen Mauern und Steine. Wir glauben es gern und wandern zügig in Kehren bergab. Unterwegs entdecken wir unter einem Baum eine kleine Höhle. Sind hier Schätze versteckt? Wenn der Ranger mit Kindern auf Tour ist, erzählt er gerne solche Geschichten und findet Plätze wie diese, an denen sich die Fantasie entzündet. Denk nur an den Drachen im Wasserfall! Oft sehen ihn sogar Erwachsene.

Die besten Forellen im Schwarzwald

Besagter Wasserfall liegt ganz hübsch. Der Pestwurz macht alles grün, ein paar Eschen und Rosskastanienbäume geben Schatten und ein Stück Himmel spiegelt sich im sumpfigen Teich. Wohl hundert Meter entfernt fließt die Wutach. Etwas weiter unten steht eine Kapelle auf einem Hügel. Hier schlägt schon lange keine Glocke mehr. Es war aber nicht immer so still.

Vor 100 Jahren flanierten hier Ladys und Damen auf geschnürten Absatzschuhen, stiefelten Lords und andere Herrschaften mit Zwirbel- oder Backenbart samt geschulterter Angelrute. Im Park vis-à-vis spielte vielleicht ein kleines Orchester „God Save the Queen“ und eine Kutsche ratterte vorbei mit Kurgästen aus St. Petersburg, Berlin, Paris oder London. Das berühmte Bad Boll hatte Hotels, Parks, Seen und war der place to be für Kurgäste, aber vor allem auch für Forellenangler. In der Wutach schwammen die besten Forellen des Schwarzwaldes und das Quellwasser war als Heilwasser berühmt. Bis 1912 war ein Londoner „Fishing Club“ der Besitzer. Später wurde die Wasserqualität von der Industrie versaut – wer wollte da noch angeln? 1992/93 dann wurden die Gebäude abgerissen und die Forellen regieren wieder wie der Hecht im Karpfenteich.

Ein Baumstamm als Rammbock

Wir spazieren durch das Grün und machen Rast an einem Pavillon mit Landkarten und Wegweisern. Wir befinden uns mitten in der drei Kilometer langen Schlucht, von der weitere Schluchten abgehen. An einigen Stellen sind wir 70 Meter unter der Abbruchkante des Waldes, an manchen Stellen sogar 180 Meter tief. Bad Boll und was danach kommt, gilt als der schönste Teil der Schlucht. Die Landschaft ist abwechslungsreich, die Steigungen moderat.

Etwas flussabwärts liegt ein großer Baumstamm ohne Rinde am Ufer. Wie zum Hinsitzen? Nein, hier war früher ein Fels, erklärt der Ranger. Beim letzten Hochwasser schoss dieser 20 Meter lange Stamm auf den Felsen und sprengte ihn einfach weg. Solche Giganten aus Holz werden wir noch öfter sehen, denn die Wutach führt mehr als einmal im Jahr Hochwasser. Der schmale Pfad begleitet den Fluss ab jetzt ganz eng. An den Bäumen wächst fingerdickes Moos, urzeitliche Farne hängen und kleben an den Bäumen und Felsen.

Wir gehen über weiße Steinklippen und Kiesbänke, schauen auf eine senkrechte Steinwand, die ein paar hundert Meter lang ist. Wir wandern so knapp am Felsen, nein, eigentlich schon im Felsen, dass wir den kühlen Stein auf der Haut spüren. Was wie ein Haufen Moos ausschaut, ist das Nest der Wasseramsel, die dieser Steinmauer ihren Namen gibt: Amselfelsen. Was für ein kleiner Vogel für einen großen Felsen! Eine Familie picknickt hier. Würden wir ein Bild knipsen und drunter „schöne Grüße aus der Provence“ schreiben, jeder würde es glauben. Wir befinden uns jetzt im Muschelkalkgestein. Eine Wanderung durch die Wutachschlucht führt auch durch Buntsandstein, Keuper, Dogger und andere Gesteinsschichten. „Eine Zeitreise durch Millionen Jahre“, sagt der Ranger.

Als wir über den wellenartigen Boden laufen, erzählt uns der Ranger, dass hier der Wellengang des Wassers zu Stein geworden ist. Vor fast 250 Millionen Jahren stand hier sieben Millionen Jahre lang das Land unter Wasser. Dabei setzten sich Jahr für Jahr im Rhythmus der Wellen tote Muscheln auf dem Boden ab. Als die Muscheln später zu Stein wurden, blieb die Form des Wellengangs erhalten. Nach dem Amselfelsen wird das Flussbett Meter für Meter trockener. Die Wutachversickerung ist auch so eine Besonderheit: Das Wasser verschwindet in Höhlen und fließt unter oder neben dem Flussbett weiter.

Ein paar hundert Meter flussabwärts springen wir von einer Klippe zur nächsten, dazwischen schießt das Wasser aus Höhlen wieder wie aus einem aufgedrehten Wasserhahn in den Fluss. Ud da bewegt sich was! Sieht fast aus wie ein Lachs, ist aber doch nur eine Bachforelle. Aber sie beweist: Abwässer fließen schon lange keine mehr in die Wutach. Wir aber müssen aufpassen: Die Wege sind nicht immer eben, die Stufen oft schräg und unterschiedlich hoch, der Boden schmierig und matschig.

Mit den Wegen hat es seine Besonderheiten. Der Londoner Fishing Club ließ 1896 einen Weg durch die Schlucht anlegen, aber schon das nächste Hochwasser riss 20 Brücken fort. Oft wird das Ufer unterhöhlt, vom Hang rutscht ein Fels oder ein großer Klumpen Erde runter. Nicht immer kann das freigeräumt werden, manchmal müssen Notbrücken geschlagen werden. Dann geht es wegen zehn, zwanzig Metern von einer Seite des Flusses auf die andere und wieder retour. Noch eine Gefahr: Sommergewitter am Nachmittag. Dann stürmen Fallwinde ins Tal und nehmen öfters mal einen Baum mit. Vorsichtshalber ducken wir uns und bleiben auf dem Pfad, den Eisenbahningenieur Karl Rümmele mit italienischen Arbeitern einst aus dem Felsen gesprengt hat. Noch ein paar Mal haben wir eine wunderbare Aussicht auf den Wald und den blauen Fluss dazwischen. Die zehn Kilometer Wanderung vergehen wie im Fluge. Vielleicht deshalb Amselfelsen?

Bis zur Wutach-Mühle

An der Brücke, die kanadische Pionieren aus Lahr gebaut haben, verlassen wir die Schlucht und gehen bergauf bis zur Wutach-Mühle mit Kiosk. Hier wird gleich der Bus halten. Von der Brücke zeigt sich die Wutach als langweiliger Fluss im geplättelten Steinbett mit Gebüsch im Hintergrund. Aber halt, da führt ein Weg ins Grün. Wie wir später erfahren, hat es flussabwärts weitere vier, fünf spektakuläre Wanderkilometer. Auch dort wird die Amsel fliegen, ein Baumstamm-Rammbock friedlich am Ufer liegen und die Forellen werden springen …

Erdgeschichte zum Eintauchen

Die Wutachschlucht ist ein relativ junges Phänomen der Erdgeschichte. Sie bildete sich vor 25 000 Jahren aus einem Gletscherfluss am Feldberg, der seine Richtung wechselte. Die Schlucht ist 33 Kilometer lang und seit 1939 ein Naturschutzgebiet. Sie ist von verschiedenen Orten zugänglich und nie gesperrt, aber durch Schnee, Eis oder Hochwasser doch nicht immer begehbar. Geführte Wanderungen sind möglich. Weitere schöne Wanderungen hat es an den Zuflüssen, etwa in der Gauchtalschlucht. Verboten sind: übernachten, grillen, vom Weg abgehen. www.wutachschlucht.de

Über den Zustand der Wege informiert Ranger Martin Schwenninger auf Twitter.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 28 (5/2021)

#heimat, Ausgabe 28 (5/2021)

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