Schindel-Stube steht in Schnörkelschrift über der Eingangstür des Schwarzwaldhauses im kleinen Muggenbrunn, darunter stapeln sich Schindeln wie Kaminholz. Ernst Karle bearbeitet mit Spaltkeil und Hammer einen Baumstamm, schlägt ein dickes, tortenähnliches Stück nach dem anderen heraus. Um den ersten Schritt zu einer Schwarzwälder Wetterschindel meistern zu können, bedarf es Sorgfalt bei der Holzauswahl: „Ich suche jeden Baum eigenhändig aus, vor allem im Forst am Nordhang auf etwa 1000 Meter Höhe“, erzählt Karle. „Dort sind die Jahresringe eng und das Holz ist fest.“ Unbrauchbar seien krumme Bäume mit vielen niedrigen Ästen. Karle macht sich vor allem im Spätherbst und zu Beginn des Winters auf die Suche. „Zu der Jahreszeit ist Saftruhe, das heißt die Stämme enthalten kaum mehr Wasser und Nährstoffe.“ Nicht nur Karles Sohn Lukas geht ihm bei der Arbeit zur Hand, auch der siebenjährige Enkel lernt schon vom Opa – mit eigenem Kinder-Werkzeug.
In Großvaters Fußstapfen
Die Idee, Hausfassaden mit Schindeln zu verkleiden, hatten die Menschen schon in der Antike, doch heute ist die Tradition vom Aussterben bedroht: Nach Karles Wissen ist er selbst der einzige gemeldete Schindelmacher der Region. Der 55-Jährige hat das Handwerk während seiner Ausbildung zum Dachdecker erlernt. „Kurz davor fand ich auf dem Dachboden dieses Hauses die Schneidbank und das Werkzeug meines Großvaters.“ Dessen bedient er sich noch immer, nennt die alte Bank liebevoll seinen Schniedesel. Darauf sitzt er manchmal stundenlang, ein Stück Holz zwischen den Beinen, das er Schnitt für Schnitt in eine zehn Zentimeter breite und 25 bis 26 Zentimeter lange Schindel verwandelt. „Genauigkeit ist oberstes Gebot, denn die Schindeln müssen sich am Haus oben und unten, aber auch seitlich überlappen.“ Das sei vor allem auf der Wetterseite wichtig, um das Haus vor Flugschnee zu schützen – idealerweise 30 bis 100 Jahre lang. Die Hochschwarzwälder sind so begeistert von der Möglichkeit dieses stabilen Wetterkleids für ihre Häuser, dass Karle mehr als genug zu tun hat. Nur bei Dachabdeckungen hält er seine Schindeln für unpassend, dafür eigne sich eher Alaska-Zeder vom Großhändler.
Vom Späneteppich zur Fassade
In der Werkstatt kringeln sich die Späne auf dem Boden, es duftet nach frischem Holz. Karle setzt sein zweigriffiges Ziehmesser an: In Sekunden zieht er jede Schindel ab, zwei- bis dreimal pro Seite, das scharfe Messer rast auf ihn zu. Damit es nicht abstumpft, schärft er es mindestens stündlich. Wichtig ist, dass jede Schindel mit einer schrägen Kante endet, dem sogenannten ‚Schnauz‘, damit Regenwasser abfließen kann. „Man muss die Schindeln entlang der Maserung spalten, nicht sägen, damit die Holzfasern intakt bleiben und Wassertropfen abweisen, statt sie aufzusaugen“, erklärt Karle.
Was einfach aussieht, ist eigentlich eine kleine Herausforderung: Der Kopf des Schniedesels hält die Schindel fest und Karle muss ihn mit dem Fuß runterdrücken. „Ein Schniedesel ist wie ein Stadtrat – trittst du ihn unten, nickt er oben“, witzelt er. Jeder Schnitt muss sitzen, darf nicht zu flach oder zu steil ausfallen, sonst entstehen ungewollte Kerben. So zaubert der Meister an den besten Tagen 800 Schindeln aus Baumstämmen. Karles Arbeit endet jedoch nicht mit der Herstellung der Schindeln. Er bringt jede einzelne auch am Haus an, pro Jahr an die 40 000 – das seien etwa zwei halbe Schwarzwaldhäuser. Die Schindelverkleidung ist zwar teurer als Putz, soll aber auch länger halten und besser dämmen. Ein schön verschindeltes Haus in Muggenbrunn ist erst kürzlich fertiggeworden. Karle hofft, dass viele weitere folgen werden, damit das besondere Schwarzwälder Handwerk doch nie so ganz aussterben wird …