Die Märchen-Oma

Die wohl älteste Influencerin Deutschlands lebt in Ettlingen. Als Märchenerzählerin begeistert Helga Hunderttausende – und das mit 91 Jahren!

Text: Stephanie Kopf · Fotos: Jigal Fichtner

Der Eingang zum Märchenland befindet sich mitten in Ettlingen. Gut versteckt im sechsten Stock eines unauffälligen Mehrfamilienhauses liegt das Reich der Marmeladenoma (zum Namen gleich mehr), wie Helga Sofie Josefa im Internet heißt. Mit 91 Jahren ist Helga, die uns gerade die Tür in ihr Wohnzimmer öffnet, eine preisgekrönte Streamerin und ein Social-Media-Star: Als Märchenerzählerin begeistert sie regelmäßig Hunderttausende Fans via Youtube, Twitch, TikTok und Instagram.  

Enkel Janik war es, der 2016 seine Oma ins Internet gebracht hat. „Die Idee war, dass Menschen den Zugang zu einer richtigen, authentischen Oma bekommen, die Märchen vorliest und aus ihrem Leben erzählt“, sagt er. „So, wie ich es erlebt habe, als ich klein war.“  

Die Märchen-Oma liest „Die sieben Raben“

Am Anfang sei sie gar nicht so dafür gewesen, „ins Internet zu gehen“, erzählt die Seniorin heute gut gelaunt. Sie habe sich nicht vorstellen können, dass sich Menschen für Märchen interessieren. Aber sie habe sich auf den Versuch eingelassen, „denn ich interessiere mich für alles Neue. Auch für neue Kommunikationsmöglichkeiten“, sagt die gebürtige Karlsruherin, die ihren bürgerlichen Nachnamen aufgrund ihrer großen Bekanntheit inzwischen lieber geheim hält. Erst als die ersten Märchenvideos online gingen und die Resonanz durchweg positiv ausfiel, war die Seniorin vom Enkelprojekt Marmeladenoma überzeugt. 

Dass das Projekt aber jemals so erfolgreich werden würde, hätte keiner der beiden erwartet: Mittlerweile folgen der Marmeladenoma auf Youtube mehr als 200 000 Menschen und lauschen fasziniert den Geschichten, die sie mehrmals pro Woche mit ihrer sanften Stimme vorträgt. Das Duo hat zudem bereits mehrere Auszeichnungen für ihr Märchenprojekt erhalten – darunter den Deutschen Web-Videopreis sowie einen Award des Facebook-Mutterkonzerns Meta.

Aus dem Märchen und aus dem Leben

Aber es sind nicht nur Geschichten der Brüder Grimm oder aus 1001 Nacht, die Menschen begeistern. Die Marmeladenoma erzählt auch von ihrem eigenen Leben, das teilweise alles andere als märchenhaft schön war. 

„In meinem Leben gab es zum Beispiel eine böse Stiefmutter“, sagt sie. Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete ihr Vater erneut, aber die neue Frau habe die sieben Kinder, die um ihre tote Mama trauerten, nicht akzeptiert. Schikanen und Sticheleien begannen, sagt sie, „und ich flüchtete mich als kleines Mädchen in die Welt der Märchen“. Sie habe sich oft auf dem Speicher versteckt, sich verkleidet, Märchenbücher gelesen, und sei so in eine  Fantasiewelt geflüchtet. 

Dann kam der Krieg und brachte das Leben des kleinen Mädchens vollends durcheinander: „Wir lebten in Karlsruhe und die Stadt wurde bombardiert. Es gab den Beschluss, dass Kinder unter 10 Jahren evakuiert werden. Ohne Eltern. Mein kleiner Bruder wurde nach Bad Rippoldsau gebracht, ich nach Schönau im Schwarzwald. Wir wurden also getrennt.“ 

Nachdem die Franzosen in Baden einmarschiert waren, wurden die Kinder von der Leitung der Lagerheime zurückgelassen. Sie mussten selber zusehen, wie sie wieder nach Hause kamen. Ihr kleiner Bruder machte sich als Achtjähriger allein zu Fuß von Bad Rippoldsau nach Karlsruhe auf den Weg, verhungerte dabei fast, wurde von Höfen gejagt, als er Hilfe suchte – aber letztendlich von französischen Soldaten gerettet und zur Familie gebracht. „Wir haben uns nach so viel Leid wiedergefunden. Brüderchen und Schwesterchen waren wieder vereint, wie im Märchen eben“, erzählt die Marmeladenoma mit einem Lächeln. Marmeladenoma – das ist übrigens der Kosename, den sie von ihren vier Enkeln bekommen hat, „denn früher habe ich viel, viel Marmelade selber gekocht“. 

Trotz des Leids in ihrer Jugend hat es die Marmeladenoma geschafft, nicht zu verbittern oder hart zu werden. Im Gegenteil: „Ich möchte den Menschen Freude schenken. Und Hoffnung“, sagt sie. Ihre Fans lieben sie dafür, dass sie von ihrem Naturgarten erzählt, den sie als junge Frau und Mutter von vier Kindern hingebungsvoll pflegte. Oder von Ferien bei Opa Josef, damals, als sie noch ein Schulmädchen war. 

Trösterin und Liebesbotin

Und so lädt sie auf ihrem Kanal immer wieder zu einer Zeitreise ein, ohne viel Schnickschnack, ganz echt und authentisch. Der Raum etwa, in dem die Videos produziert werden, ist kein Hightech-Studio, sondern das ehemalige Kinderzimmer, in dem die Enkel der Marmeladenoma übernachteten, als sie noch klein waren – und natürlich auch Geschichten vorgelesen bekamen. Die Regale sind gefüllt mit vielen Märchenbüchern aus aller Welt. Zahlreiche Fotos, Postkarten, Kuscheltiere und selbstgemalte Bilder füllen die Ecke unter dem großen Hochbett, wo ihr Lesetisch steht. Aus aller Herren Länder bekommt die Marmeladenoma Fanpost, und zwar ganz oldschool auf Papier, mit Umschlag und Briefmarke. „Ich beantworte jeden Brief“, erzählt Helga. Mit einem Brieffreund korrespondiert sie sogar in Sütterlinschrift.

Wie aus dem Märchen

Enkel Janik übernachtet übrigens immer noch bei seiner Oma, immer samstags, wenn er mit ihr die nächsten Sendungen produziert. Auf dem Streaming-Kanal Twitch gehen die beiden jedes Wochenende auf Sendung: Mehr als 70 000 Fans lauschen hier der Seniorin, bei TikTok sind es aktuell etwa 85 000. 

„Du bist die Oma, die viele von uns nie hatten“, kommentieren die Fans die Videos. Für etliche von ihnen ist die Marmeladenoma eine Trösterin: „Heute war ich traurig, aber dann habe ich Dein neues Video gesehen und jetzt geht es mir besser“, ist immer wieder in den Kommentaren zu lesen. Und die Marmeladenoma ist auch Liebesbotin: Sie gibt in ihren Sendungen nicht nur mütterliche Tipps gegen Liebeskummer – ein Paar hat sich beim Marmeladenoma-Chat auf Twitch sogar kennen- und liebengelernt: „Sie sind heute verheiratet“, erzählt Helga. Und obwohl die Marmeladenoma über 90 Jahre alt ist, ist sie gar nicht altmodisch unterwegs: Ihre Märchen liest sie vom Tablet vor. Ein Smartphone hat sie auch. „Mein Interesse für alles Neue, Unbekannte ist wohl das Geheimnis, warum ich im Kopf noch so fit bin“, erklärt sie. 

Auch die Verlagswelt ist inzwischen auf den Social-Media-Star aufmerksam geworden – und so erscheint bei Gräfe und Unzer in diesem Herbst nun sogar ein Buch über die wohl älteste Influencerin Deutschlands und ihre bewegte Geschichte. Es wird von einer sympathischen Frau erzählen, die trotz einer bösen Stiefmutter und anderer widriger Umstände ihr Happy End im Leben fand – eine Geschichte fast wie aus dem Märchen. 

#heimat Schwarzwald Ausgabe 38 (3/2023)

Freut Euch in dieser #heimat auf Erdbeer-Rezepte, Schwarzwälder Van-Life, eine Boots-Tour im Elsass, ein spannendes Interview mit Frank Elstner und unser Heimatwald-Projekt – zusammen mit weiteren spannenden Menschen und ihren Geschichten. Was hat es zum Beispiel mit dem Schneekönig auf sich – im Mai? Und wer steckt hinter dem Titel Badens Winzer des Jahres? Lest selbst!

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