Die heilende Kraft des Waldes

Wie man in den Wald geht, so kommt man nicht immer heraus! Stressmanagement-Trainerin Karin Beilharz nimmt uns mit auf eine Reise der Entspannung

Text: Patrick Czelinski · Fotos: Jigal Fichtner

Ich gestehe: Ich bin gestresst! Mein Chef schickt mich in den Wald, obwohl sich auf meinem Schreibtisch die Arbeit stapelt. Naja, wenigstens geht es für mich zu einem Seminar für Stressbewältigung – schauen wir mal, ob’s was nutzt ! Mein Ziel: Ehlenbogen, ein Weiler nahe Alpirsbach. Hier bietet Karin Beilharz, Diplom-Sozialarbeiterin, systemische Therapeutin und Expertin für psychosoziale Gesundheit, Seminare für waldbasiertes Stressmanagement an – sprich: Sie verschwindet mit nervösen Städtern zwischen Tannen und Fichten und später kommen alle entspannt wieder raus. Aber jetzt Vorurteile über Bord werfen und rein ins Abenteuer …

Stress hat viele Gründe

Karin steht in der offenen Glastür des Seminarhauses auf ihrem Hof. Die Frau hat verdammt gute Laune – und sie empfängt mich mit einem frischen Apfelkuchen und dampfendem Kaffee. Fängt ja gut an! Das Gebäude hat sie aufwendig renoviert. Ein offener Kamin, helles Holz, viel Glas. Wir gehen gemeinsam in den Seminarraum im ersten Stock. „Stress spielt bei Menschen, die persönlich oder beruflich in einer herausfordernden Situation sind, immer eine Rolle“, sagt sie. Egal ob Arbeitsdichte, Überforderung oder Konflikte und Sorgen – der Körper steigt in eine Stressreaktion ein. Beilharz selbst arbeitet seit Jahren in der psychosozialen Beratung, ist außerdem eine typische Waldbäuerin. Was liegt da näher, als den eigenen Wald in die Seminare mit einzubinden? „Es gibt Untersuchungen, die beweisen, dass sich der Wald positiv auf unser Immun- und Stresssystem auswirkt.“ Und das wollen wir gemeinsam ausprobieren. Also: Schuhe und Jacken an, Rucksack auf, Lammfell unter den Arm und los geht’s!

Bäume der Erkenntnis

Vom Bachbauernhof überqueren wir die B 294. Ein matschiger Feldweg führt uns bis zum Waldrand, wo uns Karin mit sanften Worten auf das vorbereitet, was wir erleben werden. Einige Stunden werden wir zwischen Tannen, Fichten, Moos und Farnen verbringen. Das „waldbasierte Stressmanagement“ besteht aus mehreren Etappen. Die Impulse, die ich heute bekommen soll, basieren auf dem Stressmanagementkonzept „Gelassen und sicher im Stress“ von Prof. Gert Kaluza.

Gleich zu Beginn geht es um die Wirkung des Waldes auf unsere Körperfunktionen. „Es sind größtenteils die Terpene“, erklärt uns Karin. Das sind Bestandteile der ätherischen Öle, die von den Bäumen produziert werden und eine pharmakologische Wirkung haben.

„Es sind für die Bäume eine Art Vokabeln, mit denen sie umliegende Bäume warnen, um sie beispielsweise vor Schädlingen zu schützen. Auch das menschliche Immun-, Nerven- und Hormonsystem ist empfänglich für sie und sie helfen dabei, Stresshormone zu senken. In Japan ist die Wirkung des Waldes in der Medizin schon länger etabliert“, weiß Karin. Für sie ist das logisch, schließlich waren wir Menschen Jahrmillionen Teil der Natur – und dort haben sich unsere Körperfunktionen entwickelt. „Unser Körper erkennt die Natur noch immer.“ Wer vier Stunden im Wald verbringt, steigert die Zahl seiner natürlichen Killerzellen zum Aufspüren von Viren und Bakterien um 40 Prozent. Bei zwei Tagen noch mal fast um das Doppelte …

Lektionen auf dem Lammfell

Ein Stück weiter oben gelangen wir zu einer Lichtung, auf der mehrere abgesägte Holzstämme stehen. Wir breiten unser Lammfell darauf aus und nehmen Platz. Karin stellt sich unterdessen an eine von ihr aufgebaute Tafel und erklärt das komplizierte Zusammenspiel aus Sympathikus und Parasympathikus, die beiden großen Gegenspieler, die im unwillkürlichen Nervensystem für An- beziehungsweise Entspannung sorgen. „Der Sympathikus bereitet uns auf Kampf oder Flucht vor. Das ist gut, wenn wir in Gefahr geraten. Wenn unser Organismus aufgrund einer hohen Stressbelastung aber dauerhaft vom Sympathikus beherrscht wird, dann ist das nicht gesund“, sagt Karin und erklärt uns noch das Modell von instrumenteller, mentaler und regenerativer Stresskompetenz. Dazu gibt sie uns praktische Tipps zur Entspannung an die Hand. Wir machen Atemübungen, lernen, wie wichtig es ist, Bewegung in seinen Alltag zu integrieren und sich eine regenerative Gegenwelt zu schaffen. „Entspannen bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern das zu tun, was man sonst nicht tut. Und es ist wichtig, genießen zu können“, sagt die Fachfrau.

Wir essen Fichten- und Tannennadeln

Apropos Genuss: Mitten im Wald stoßen wir auf ein Holzfass, auf dem eine Thermoskanne mit heißem Apfeltee und ein Körbchen mit frisch gebackenen Mandelhörnchen stehen. „Greift zu“, sagt Karin. Die Frau weiß wirklich zu verwöhnen! „Ich fahre oder laufe morgens durch den Wald und baue das alles für meine Seminarteilnehmer auf.“ Gut, so ein halber Tag im Wald ist auch eine lange Zeit, da braucht es die ein oder andere Stärkung …

Jetzt aber die nächste Übung: Karin schlägt gegen eine Klangschale. Der Gong verhallt in den Tiefen des Waldes. Von jetzt an heißt es schweigsam den Berg hinaufkraxeln – und dabei alleine auf die Atmung zu achten. Ich kraxle – und achte auf meine Atmung. Und ich muss zugeben: Es ist gar nicht so einfach, denn die großen und kleinen Probleme des Alltags ploppen immer wieder im Kopf auf. Aber Karin wäre nicht Karin, wenn ihr hierzu nichts einfiele. „Beiß’ mal auf ein paar Fichtennadeln und spüre, wie die ätherischen Öle in deinen Mund strömen“, sagt sie. Ich soll jetzt ernsthaft Fichten essen? „Ja, und danach Tannen.“ Na gut. Und tatsächlich. Die Nadeln sorgen für eine regelrechte Geschmacksexplosion. „Siehst du“, sagt Karin, „in diesem Moment hast du an nichts anderes gedacht! Genuss ist eine wunderbare Form der Regeneration, denn es ist dabei einfach, im Hier und Jetzt zu sein und der Entspannungsnerv wird aktiviert!“ Kluge Frau.

Nach ein paar Stunden sind wir oben angekommen, an einer freien Stelle mit Blick ins Tal. Neben uns rauscht der Bach, hier und da zwitschert ein Vogel, Nebelschwaden wabern zwischen den bis zu 300 Jahre alten Bäumen herum. Wir berühren Tannenzapfen und Pflanzen – und wir achten bewusst auf alle Grüntöne, die der Wald zu bieten hat. Wir lernen: „Der Blick ins Grün, in die Natur, wirkt entspannend und aktiviert die Selbstheilungskräfte des Körpers. Diese Wirkung ist sogar über den Vagostonus, einen Teil des Parasympathikus, messbar. Die Wissenschaft nennt die Wirkung des Waldes auf unsere Gesundheit „Biophilia-Effekt“. 

Zum Ende des Seminars liegen wir in Hängematten und lauschen den Geräuschen des Waldes. „Das mache ich seit meiner Kindheit sehr gerne“, sagt Karin. Dann steigen wir ab. Es geht zurück über die B 294 und zum Hof. Und tatsächlich: Der Körper fühlt sich entspannter an, der Geist ist wie gereinigt – dank Karin, die äußerst pragmatisch und wissenschaftlich an die ganze Sache herangeht, fernab von Esoterik.

An die heilende Kraft des Waldes glaube ich jetzt auch – zumindest ein bisschen. Und ich nehme mir vor, in Zukunft viel öfter zwischen Fichten und Tannen zu wandeln. Ach ja, und auf meinen Chef bin ich auch nicht mehr böse. Die Arbeit auf dem Schreibtisch kann warten. Ich bin ja jetzt tiefenentspannt …

#heimat Schwarzwald Ausgabe 31 (2/2022)

Die #heimat. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2022. Dies sind die Abenteuer von Schwarzwälder Stars und Sternchen, im Großen wie im Kleinen, von unbekannten kulinarischen Galaxien, in denen wir dieses Mal den Flammkuchen huldigen, von Affineuren und Stressbewältigern. Dazu stellen wir Euch Kemi Cee vor – eine Sängerin wie vom anderen Stern …

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