Der Schwarzwälder, der Berlinale-Chef wurde

Dieter Kosslick war nicht nur 18 Jahre lang Zeremonienmeister der
Berlinale – er ist auch Schwarzwälder im Herzen. Und ein Genießer,
der unsere kulinarische DNA bis nach Hollywood getragen hat …

Mit dem Film ist der Mann mit dem roten Schal und dem Hut, wie ihn der badische Revolutionär Friedrich Hecker trug, für immer verbunden. Und zwar mit dem ganz großen Kino! Und so spricht Dieter Kosslick – langjähriger Berlinale-Chef und gebürtiger Pforzheimer – mit uns über Leonardo und die Meryl, die ja irgendwie auch eine Schwarzwälderin sei (die Urgroßeltern stammen aus Loffenau), als wären es die netten Nachbarn von nebenan … 

Kneipen-Session mit den Stones

An hochspannendem Redestoff, an dem sich so manches Revolverblatt ergötzen würde, mangelt es jedenfalls nicht an diesem Abend in Offenburg. Und an feinem Essen und Trinken auch nicht, denn wir haben uns mit Dieter, einem bekennenden Genießer, im Restaurant Wasser und Brot im Offenburger Gefängnishotel Liberty verabredet. Gerade erzählt der Kulturmacher, wie er, als Mick Jagger und Keith Richards auf der Berlinale waren, Ronnie Wood dazu brachte, mit ihm im Duett
„Time is on my side“ zu spielen (schließlich war er ja in seiner Jugend Saxofonist in der Pforzheimer Kultband The Meters). Dann sind wir auch schon bei George Clooney und Cate Blanchett, die er 2007 auf dem Roten Teppich begrüßte, als die Berlinale mit 19 000 akkreditierten Festivalbesuchern aus 127 Ländern einen neuen Rekord hinlegte. Schließlich werden wir – genauso wichtig –
durch die Vorspeisen unterbrochen: von geröstetem Romanesco mit Birne, Mandeln  und einer Senf-Thymian-Vinaigrette sowie gebackener Avocado mit Hummus, Reispapier-Chips und Jasmintee-Schaum. 

Vegan und vegetarisch also, was uns zur Frage bringt, wie ein Mann, der zeitlebens gefühlte 10 000 Büfetts eröffnen musste, diese Bürde als Vegetarier durchhalten konnte – beziehungsweise als Aquatarier nach eigener Definition, weil Fisch im Hause Kosslick auf den Tisch kommt. Seine Entscheidung fürs fleischlose Glück liegt ein Vierteljahrhundert zurück und wurde nur einmal durch Vincent Klinks Grillkünste arg in Versuchung geführt. So kam es, dass Dieter Kosslick gegen eine Menge Widerstände aus der einstigen Bulettenparty Berlinale ein vegetarisches Festival machte … 

Ein Mann für Slow Food

Gutes Essen ist Dieter Kosslicks Ding – wahrscheinlich sind wir uns auch deshalb gleich so sympathisch. Bereits 2006 hielt er eine Laudatio auf Alice Waters und Carlo Petrini, die „berühmte Köchin aus dem berühmten Restaurant Chez Panisse in San Francisco“ und den „berühmten Erfinder von Slow Food, der in Rom den Fast-Food-Giganten McDonald‘s mit Humor und Eleganz vorführte“. Derart unterstützt, kam die Slow-Food-Bewegung auch in Deutschland in Schwung, was ganz typisch ist für Dieter Kosslick: Er nutzt sein Talent des charmanten Gastgebers, um durchzusetzen, was ihm wichtig erscheint. 

Harvey Weinstein? Nein, danke! 

Während wir plaudern und den Hauptgang verputzen – karamellisierte Perlzwiebel mit Trüffelstampf und Rotkraut-Chips –, zieht eine Schar prominenter Zeitgenossen an uns vorbei. Dieter Kosslick kennt sie alle, seine Handykontaktliste ist nicht in Gold aufzuwiegen: Robert de Niro und Martin Scorsese und Penelope Cruz, Joschka Fischer, König Charles III., Claudia Cardinale, Wes Anderson, Brad Pitt und Angelina Jolie … ach ja, und auch mit dem berüchtigten Harvey Weinstein hatte er seine Begegnung der besonderen Art: Weil ihm der Filmproduzent unsympathisch war, bat Dieter Kosslick einige Mitarbeiter, beim Telefonat dabei zu sein, als es um den nächsten Weinstein-Film für die Berlinale ging. Dabei rastete Weinstein völlig aus, als er glaubte, die Telefonkonferenz sei beendet. War sie aber nicht; die Zeugen hörten die Schimpftirade mit, was den Berlinale-Chef dazu brachte, den Filmmogul gleich wieder auszuladen … 

Menschlichkeit ist ihm wichtig. Genauso wie der Film als Kulturgut, für den er sich nicht nur bei den Berliner Filmfestspielen engagierte und immer noch einsetzt. Schließlich leitete er die Filmförderungen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, gründete die europäische Filmförderung in Brüssel mit, machte aus den Internationalen Filmfestspielen Berlin das größte Publikumsfilmfestival der Welt, lehrte als Professor an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und steht der Jury des renommierten Carl Laemmle Produzentenpreises vor. Doch auch außerhalb seines Filmlebens war und ist Dieter Kosslick sehr aktiv: Als persönlicher Referent und Redenschreiber von Hamburgs erstem Bürgermeister Hans-Ulrich Klose etwa, als Pressesprecher der Leitstelle Gleichstellung der Frau, als Reporter für die Zeitschrift konkret. Und dann gibt es auch noch den Dieter Kosslick, der das Kulinarische Kino erfunden hat …

Da diese ganzen Aufgaben auch mit Stress verbunden sein können, schwört Dieter Kosslick auf Detoxing per Fastenkur. Als Berlinale-Chef nutzte er die Zeit nach dem Festival, mittlerweile kann es auch unterm Jahr sein. Nur nicht heute. Denn gerade wird das Dessert serviert, und da hat das Wörtchen Fasten nichts zu suchen. Und was hält er, der als Student zum damaligen
König der Gastronomiekritik Wolfgang Siebeck
an den Ammersee eingeladen wurde, wo gerade
Deutschlands erster Kochstar Eckart Witzigmann auftischte, von dieser Salz-Karamell-Tartelette und dem unwiderstehlichen Yuzu Cheesecake mit Sauerkirsch-Espuma? Wir haben’s ja vorweggenommen: „Unwiderstehlich!“

Badener mit Schwaben-Tugenden 

Bei einem lokalen Tröpfchen, einem Fessenbacher Kirchherrenberg Spätburgunder vom Familien-Weingut Renner, schwätzen wir vergnügt weiter. Ja, schwätzen, denn Dieter hat trotz seines  Globetrotter-Lebens die alte Heimat nie vergessen. Geboren in Ispringen, wurde er zum demokratieliebenden Badener mit Hang zu schwäbischen Tugenden. Gerade hat sein Cousin Bernhard einen Backclub in Ispringen gegründet, wo er Mitglied ist und ab und zu mitbackt. Gebacken wird gemeinsam, was ihm mehr bedeutet als eine sentimentale Erinnerung an die Kindheit in einer Ispringer Bäckerei, während seine verwitwete Mutter in einer Pforzheimer Fabrik arbeitete. Kein Wunder, dass  Dieter Kosslick früh eine Liebe zur Brezel pflegte – in seinen Augen ein philosophisches Gebäck, weil es keinen Anfang und kein Ende aufweist. So mancher Hollywood-Star konnte sich glücklich schätzen, vom Festivalleiter persönlich mit Brezeln umsorgt zu werden, die in Berlin von einem Bäckermeister aus dem Süden angefertigt wurden. Damit schließt sich auch für uns der Kreis mit einem Bild vor Augen, wie Angelina Jolie und Brad Pitt an einer Brezel knabbern, von außen nach innen, und als sie dort angekommen sind … ach, wie schön ist das Kino im Kopf. 

So wäre es auch für Dieter Kosslick die Höchststrafe, wenn das Kino irgendwann ausstirbt?  Dieter Kosslick beruhigt uns: „Das Kino ist unverzichtbar“, gibt er uns mit auf den Nachhauseweg, weil es mehr denn je das gemeinsame Erleben fördere. Und dieses gemeinsame Erleben ist doch das Beste, was wir haben, wie dieser Abend in der Heimat mal wieder auf schönste Weise bewiesen hat …

Immer auf dem Teppich bleiben

Wer fast zwei Jahrzehnte Direktor eines internationalen Filmfestivals war, hat einiges zu erzählen. Kein Wunder also, dass Dieter Kosslick 2021 seine Memoiren veröffentlicht hat. In „Immer auf dem Teppich bleiben“ schreibt Kosslick aber nicht nur Spannendes über Stars und Sternchen, sondern auch darüber, wieso Filme die Welt verändern und wie die Zukunft des Kinos aussehen könnte.

Immer auf dem Teppich bleiben,
Verlag Hoffmann und Campe, 25 Euro

#heimat Schwarzwald Ausgabe 39 (4/2023)

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