Drei Varianten, ein Ziel
Die vielen Tunnels und Doppelschleifen führen dazu, dass ich irgendwann die Orientierung verliere. Ich sehe auch keine Straßen mehr. Natürlich nicht, denn Gerwig ließ die Gleise oben am Berg legen und nicht unten im Tal. Aber noch etwas anderes verwirrt mich. Der Zug sollte doch nach Osten fahren, stattdessen fährt er nach Westen. Auch sieht man öfters die gleichen Landschaften oder auch Gebäude wie die Fabrik mit dem markanten Schornstein. Das liegt an der Streckenführung, die an ein hingeworfenes Seil erinnert. Erst vor St. Georgen wird das Zugfahren wieder wie gewohnt: Es geht geradeaus.
Gerwig standen drei Strecken zur Auswahl. Die leichteste Schwarzwaldüberquerung wäre die über Schramberg gewesen. Aber diese Variante hätte württembergisches Gebiet an die Welt angebunden – und nicht badisches. Keine Option. Damals wie heute gehört eine Infrastruktur zum wirtschaftlichen Erfolg. Für die badische Uhrenindustrie wäre das verheerend gewesen. Eine weitere Trasse war technisch noch kniffliger. So blieb nur die bergige Strecke über Triberg als Alternative übrig. Meine Augen entdecken nicht nur Wald und Wiesen, sondern auch den nackten Fels, der manchmal mit Stahlgitternetzen als Schutz vor Steinschlag überzogen ist. Klar, dass das auch für Gerwig das ganz große Thema war. Schließlich zeigte sich das Gebirge so renitent wie ein alemannischer Dickschädel. „Der Schwarzwälder Gneis ist eben manchmal unberechenbar, mal ist der Fels feinkörnig, mal grobkörnig, mal trocken, mal hart, je nach Wasserführung und Verwitterung. Günstig ist für uns allerdings Ihre geniale Idee, zu den bisherigen eingleisigen Strecken, die Strecke zwischen Hornberg und St. Georgen mit einem zweigleisigen Bahnkörper auszubauen. So nutzen wir das Ausbruchmaterial zur Aufschüttung des zweiten Gleisbettes und sparen uns die Zeit, alles Felsgeröll aus dem Tunnel zu transportieren.“ (Obermaier/Stein, „Schwarzwaldbahn“)
Wer konnte bei solchen Verhältnissen schaffen? Gerwig fand viele seiner Leute südlich der Alpen. Bekanntlich ist Italien nicht nur das Land der Strände und uralten Städte, sondern vor allem ist es bergig. Zwei Drittel der Landschaft sind nicht flach! In Norditalien wurden erfahrene Arbeiter angeheuert. „Attenzione! Signori e Signore! Alle mal herhören. Die Eisenbahn aus Alemagna sucht weitere 30 Arbeiter. Bewerber melden sich morgen ab 8.00 Uhr in der Taverna Cristallo in San Giacomo Filippo zur Anwerbung.“ (Obermaier/Stein,„Schwarzwaldbahn“)
Der französisch-preußische Krieg (1870) verzögerte den Bau. Erst 1873 wurde der kniffligste Teil zwischen Hausach und St. Georgen mit dem Viadukt in Hornberg beendet. Taugt die Bahn was? Also wurde zur Probefahrt geblasen. „Die Fahrt auf der wiewohl vielfach gewundenen und stark ansteigenden Bahn zeugte durch den raschen und leichten Gang des Zuges von der soliden und kunstmäßigen Anlage; die Brücken und Übergangswerke insbesondere entsprachen den gestellten Anforderungen aufs Vollkommene.“ („Erprobung der Schwarzwaldbahn“, Der Kinzigtäler, 6.11.1873).
Im höchsten Bahnhof der Schwarzwaldbahn (St. Georgen, 862 Meter) steige ich aus. Hätte ich mir in Triberg besser einen Pullover kaufen sollen? St. Georgen ist ob seiner Kälte gefürchtet. Aber nein, es ist genauso warm wie im Tal. Der höchste Bahnhof der Schwarzwaldbahn wurde erst drei Jahre nach der Fertigstellung gebaut. Dieser schaut schwarzwälderisch aus, während andere wie der Haslacher WWan einen italienischen Palazzo erinnern. Aber hier wie dort gibt es keine Bahnhofswirtschaft mehr, wo es Menüs, Vesper und Flaschenbier für die Reisenden gibt. Auch der Fahrkartenverkauf wurde längst eingestellt und niemand bimmelt die Glocke. Keiner ruft „Bitte einsteigen!“ Jetzt übernehmen Snackautomaten, Schalter mit Bildschirm und automatisierte Ansagen das Geschäft. Schnell ist der Bahnsteig wie leergefegt.
Wohin jetzt? Ans Schwäbische Meer nach Konstanz? Nein, ein kleiner Teich liegt grad zehn Gehminuten vom Bahnhof weg. Wie Millionen andere Fahrgäste bin ich am Klosterweiher schon zigmal vorbeigefahren. Wie mag es dort sein? Das Wasser glitzert so schön im Licht. Schwimmen kann man hier und sich einen Sonnenbrand holen, stelle ich fest. Cappuccino gibt’s auch. Italiener? Nein, die Betreiber kommen zwar aus der Emilia-Romagna, sind aber Albaner. Die Schwarzwaldbahn bringt nicht nur die Menschen von A nach B, sondern lässt sie manchmal auch irgendwo dazwischen sesshaft werden. Warum denn nicht? Es ist schon ein tolles Land, wo der Kuckuck ruft, das Auerhuhn sich hartnäckig versteckt und das Kirschwasser am Brunnen sprudelt. Schön, dass diese Lebensader noch so lebendig ist …