Hallo Rodolphe! Besuch auf der Rentierfarm Schantzwasen

Die Helfer von Santa Claus leben am Nordpol? Au Contraire! Im Herzen der Vogesen verbreiten Rentiere dieser Tage die Magie von Weihnachten.

Text: Heike Behrens · Fotos: Jasmin Fehninger

Zwischen den hohen Weißtannen bewegt sich etwas. Rothirsche? Nun ja, man könnte sagen, es sind ihre etwas kuscheliger angezogenen Verwandten. Beim Spaziergang stoßen wir mitten im Wald auf eine Herde Rentiere. Machen Redakteurin und Fotografin von #heimat zusammen Urlaub in Skandinavien? Sind uns daheim die Themen ausgegangen? Nein, wir befinden uns nur rund anderthalb Autostunden vom Schwarzwald entfernt, in den Vogesen, am Südosthang des Tanet-Massivs auf 1096 m Höhe. Hier streifen wirklich Rentiere durch eine Landschaft mit dichten Wäldern, Hochmooren, moosbewachsenen Felsen und plätschernden Bächen, die an Lappland denken lässt. Seit 18 Jahren lebt eine Herde auf dem sechs Hektar großen Gelände der Rentierfarm Schantzwasen nahe der elsässischen Gemeinde Stosswihr. Einige Tiere ziehen gemächlich an uns vorbei, immer neugierig, aber in sicherem Abstand. Niedliche Kälber mit flauschigem Fell staksen hinter ihren Müttern über die Wurzeln. Berührend ist die Begegnung mit den Hirschen aus dem hohen Norden, die uns mit ihren sanften Augen aufmerksam beobachten.

Die Anfänge der Herde

Thierry Hininger, der Besitzer der Herde, erzählt uns die Geschichte seiner ungewöhnlichen Leidenschaft. Schon lange fasziniert ihn die Kultur der Rentiernomaden in den nordischen Ländern. „2006 haben wir mit der Zucht begonnen“, erinnert er sich. „Die Winter wurden kürzer, der Schnee seltener und die Skilifte standen still. Da fragte ich mich: Was können wir tun, um den Tourismus anzukurbeln? Da kam mir die Idee mit den Rentieren.“ Doch der Anfang war alles andere als leicht. „Wir haben lange nach den ersten Tieren gesucht“, erzählt Thierry. Schließlich kamen die ersten drei Rentiere aus dem Nürnberger Tierpark. Die Namen Vixen, Blixen und Comete sind von dem Gedicht The Night Before Christmas des amerikanischen Schriftstellers Clement C. Moore inspiriert. Sie waren bereits an hiesige Temperaturen gewöhnt, aber eine Junggesellentruppe. Dank Kontakten nach Schweden und Finnland kamen die weiblichen Rentiere Tara, Aimesi, Neige und Nokia dazu und die Herde wuchs im Laufe der Jahre auf heute 31 Tiere an. Inzwischen streift die dritte Generation durch den Wald. Man kann sogar mit ihnen spazieren gehen, die Rentiere laufen brav mit. „In Lappland leben viele Rentiere eng mit den Menschen zusammen“, erzählt Thierry, „Nur in der Brunftzeit können sie etwas aggressiv werden. Dann bleiben die männlichen Tiere auch tagsüber im Stall, aber nachts sind sie alle zusammen, wir wollen ja Nachwuchs haben.“ Rothirsche röhren, bei Rentierbullen hört sich der Brunftschrei eher nach einem Husten an. Es ist ja um diese Jahreszeit auch etwas kälter im hohen Norden ...

Die Geburten der Kälber stehen im Frühling ab Anfang Mai an, und dann geht es Schlag auf Schlag. „In diesem Jahr hatten wir zehn Junge, die mittlerweile schon recht groß sind. Sie wachsen schnell. Schon nach drei oder vier Tagen können sie problemlos mitlaufen und sind kaum noch einzufangen“, erzählt Thierry. In der Natur zögen Rentiere stetig umher, und das mache sie robust, erklärt der Züchter weiter. Auf der Rentierfarm Schantzwasen, wo sie auf einer begrenzten Fläche leben, gebe es manchmal Probleme mit Parasiten. Als Haustiere werden sie meist 12 bis 13 Jahre alt. In der Wildnis erreichen sie dieses Alter selten, weil sie dort oft zur Beute von Raubtieren wie Wölfen werden, sobald sie älter und nicht mehr so flink sind.

Thierry führt uns zu dem 800 Meter langen Lehrpfad, auf dem die Gäste den Rentieren nahekommen können. Ein rotes Schild am Eingang macht klar: „Eigentum des Weihnachtsmanns – Zutritt nur für brave Kinder“. An so einem Ort haben die Kleinen natürlich viele Fragen und die werden auf dem Spaziergang durch den Wald nicht immer ganz ernst beantwortet: Können Rentiere fliegen? Nur in der Weihnachtsnacht! Was fressen sie? Sie lieben junge Triebe, Gras und Blätter. Zusätzliches Futter bezieht Thierry aus Schweden und Finnland. Jeden Tag um 16 Uhr können seine Gäste bei der Fütterung zuschauen. 31 Rentiere wollen hier satt werden, und wie viele braucht eigentlich der Weihnachtsmann, um seinen Schlitten in Gang zu kriegen? Auch darauf weiß der Lehrpfad eine Antwort: Es sind acht. An einem Geländer hängen ihre Halfter unter Namensschildern: Tornade, Danseur, Furie, Fringant, Comète, Cupidon, Tonnerre und Éclair sind die französischen Entsprechungen der ursprünglich englischen Rentiernamen aus dem Gedicht von Clement C. Moore. Ein Rudolph oder passender ein Rodolphe mit der roten Nase wie in dem bekannten Weihnachtslied fehlt allerdings noch ...

Die Rentiere von Schantzwasen haben eben ihre eigenen Geschichten und Persönlichkeiten. „Manchmal kommen sie, wenn man sie ruft“, erzählt Thierry schmunzelnd, „aber meistens haben sie ihren eigenen Kopf.“ Manche haben Lust auf Streicheleinheiten, andere nicht. Während wir weiter den Lehrpfad enlanggehen, kommt die Sonne raus und schickt ein geheimnisvolles Licht- und Schatten- spiel durch die Kronen der Weißtannen. Ein leichter Nebel schwebt über das Moor, und außer dem leisen Rascheln in den Büschen, wo die Rentiere knabbern, herrscht fast absolute Stille. Plötzlich tauchen einige von ihnen aus dem Unterholz auf und schnuppern vorsichtig an uns. Einige haben nur ein Horn, was nicht etwa das Ergebnis eines Kampfes ist, sondern eine Laune der Natur. Bei den Rentieren tragen sowohl Männlein als auch Weiblein Geweih. Bullen werfen es im Herbst ab, die Weibchen erst im Frühjahr. Und manchmal bleibt eben erstmal noch eine Stange stehen. Wenn jetzt schon Schnee liegen würde, könnten wir sehen, wie die Rentiere mit gespreizten Hufen geschickt darüber laufen und nach Futter graben. Für Menschen gibt es einen Schneeschuhverleih auf der Farm.

Am Ende des Lehrpfades stehen die Hütte von Santa Claus und sein Schlitten – hier ist praktisch das ganze Jahr Weihnachten. Nicht weit davon liegt ein Spielplatz, Schantzwasen ist ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Aber auch als Erwachsener möchte man am liebsten wieder Kind sein und sich wie damals verzaubern lassen ...

Zu Besuch bei den Sámi

Wir verbinden hierzulande Rentiere mit Advent, Kerzen und Strickpullis. Für die Sámi, ein indigenes Volk in Skandinavien, sind Rentiere bis heute eine Lebensgrundlage. Die Rentierfarm Schantzwasen hat ihnen eine kleine Ausstellung gewidmet. „Hier haben wir eine Sammlung von Alan Borvo, einem Ethnologen, der viele Jahre in Lappland gelebt hat“, sagt Thierry. Sie besteht aus in Grün-, Rot-, Blau- und Gelbtönen gehaltenen Trachten und handgefertigten Alltagsgegenständen der Nomaden. Die Pariser Witwe des Ethnologen wollte, dass die Sammlung an einem Ort aufbewahrt wird, wo Rentiere leben, und hat die Exponate als Dauerleihgabe an die Farm gegeben.

Nach unserer Wanderung durch den Rentierwald führt uns der Weg direkt zur Auberge du Schanzwasen. Ursprünglich eine Hütte des Alpenvereins Saarbrücken, wurde das Gasthaus mit viel Liebe renoviert. „Als wir die Gaststube neu gestalten wollten, haben wir überall altes Holz gesammelt, vor allem in Häusern und Scheunen, die abgerissen wurden“, erzählt uns Marie-Odile, Thierrys Schwiegertochter.

Das Ergebnis: eine urige Stube mit Charme und Charakter. Von hier oben genießt man bei einem Glas Rotwein die Aussicht über das Münstertal. Dazu gibt es elsässische Spezialitäten. Besonders beliebt: der überbackene Münsterkäse mit Kartoffeln. Wir entscheiden uns für hausgemachte Spätzle mit Pilzen und eine Königinnenpastete – die allein schon die Fahrt hierauf wert gewesen wären. Kein Wunder, dass an diesem Montag beinahe jeder Platz hier besetzt ist. Auch Übernachtungen sind möglich.

Wir werden nächstes Jahr an Weihnachten wiederkommen und nachsehen, ob in der Rentierherde nicht doch noch ein kleiner Rodolphe mit Rotnase geboren wurde ...

Auch mal hin?

Mehr Infos zum Gasthof Auberge du Schantzwasen gibt es auf der Webseite auberge-schantzwasen.com

#heimat Schwarzwald Ausgabe 47 (6/2024)

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