Die Jenischen: das vergessene Volk

An den Rand gedrängt und fast vergessen. Aber: Die Jenischen sind da. Eine Spurensuche mit erstaunlichen Erkenntnissen

Fotos: Alexander Flügler; Patrick Bierhinkel

Die Frage hätte wohl nicht kommen dürfen. „Über die Jenischen schreiben?“ Der Offenburger Bürger wiederholt sie beinahe fassungslos und runzelt die Stirn. Und dann – nach kurzer Überlegung – ein knappes, abschätziges „Aha“. Regelrecht in den Raum gespuckt. Die Stimmung verändert sich spürbar. Die Jenischen, das sind die, mit denen man nichts zu tun haben will. Sie sprechen nicht nur anders, sie sind es auch. In Offenburg und Lahr haben sie sogar eigene Stadtteile. Bis in die frühen 1980er-Jahre galten diese Bezirke als No-Go-Areas. Zumindest für Außenstehende. Innerhalb der Gettos respektierte man sich. Man sprach eben dieselbe Sprache, hatte dieselbe Geschichte und dasselbe ererbte Stigma...

Umherziehendes Volk

Wie es dazu kommen konnte, wird anhand der Historie der Jenischen deutlich: Bereits im späten Mittelalter fanden sie und ihre Sprache Erwähnung in der Literatur. Allerdings nur in unrühmlichen Zusammenhängen: So wird im Liber Vagatorum, dem Buch der Umherschweifenden, um 1510 in Pforzheim erschienen, wörtlich über „Bettlertypen und deren Arbeitstechniken“ geschrieben. Sie galten als „herrenloses Volk“ und waren damit automatisch an den Rand der Gesellschaft verbannt. Einem „ehrbaren Handwerk“ nachzugehen, war somit für sie nicht möglich. Um zu überleben, gingen sie auf Diebes- oder Betteltour.

„Die meisten von ihnen waren jedoch einfache Hausierer, die allerlei Kramwaren verkauften“, erklärt der Acherner Historiker Klaus G. Kaufmann, der sich intensiv mit den Jenischen im süddeutschen Raum befasst hat. Oder sie boten ihre Dienste als Kesselflicker oder Messerschleifer an. Verdienten sich als Kleinhandwerker etwas dazu. Immer über Land, von Haus zu Haus, von Hof zu Hof. Dabei entwickelten sie eine Geheimsprache, die nur ihnen verständlich war: das Jenische. So konnten sie sich zum Beispiel darüber austauschen, auf welchem Hof es nichts zu holen gab, in welcher Stadt die Menschen etwas freigiebiger waren oder wo man schon mal Prügel beziehen konnte.

Da nicht nur die Jenischen, sondern auch andere Minderheiten nur „fahrend“ einem Broterwerb nachgehen konnten, galten sie in den Augen der Sesshaften als Zigeuner. Man warf sie – im übertragenen Sinne – alle in einen Topf. Auch heute noch werden Jenische als weiße Zigeuner bezeichnet. Ethnisch-genetisch betrachtet, haben die Jenischen mit den Sinti und Roma jedoch nichts zu tun. Sie waren lediglich gezwungen, miteinander zu leben. Beziehungen soll es vereinzelt gegeben haben, waren aber nicht gerne gesehen. Jenische hatten für Sinti und Roma sogar ein eigenes Wort: Manische.

Die ersten Ansiedlungen

Nach Ende des 30-jährigen Krieges gab es Bemühungen, die Jenischen sesshaft zu machen. So entstanden im Südwesten sogenannte Hausierdörfer. Sie lebten auf landwirtschaftlich kaum nutzbaren Böden, was ihnen nur eine karge Ernte, dem Landesherren aber Abgaben einbrachte. Einen zweiten Niederlassungsschub gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sehr zum Missfallen der Städte und Gemeinden, die sie an die Peripherien drängten: Die Geburtsstunde der Ghettos war gekommen. Jenische Besiedlungen gab es in Würmersheim bei Rastatt, in Offenburg, Lahr, Wolfach und in Singen am Hohentwiel.

Das gemeinsame Wohnen ausgeschlossener Gruppen führte zu einer Annäherung, wo zuvor Distanz herrschte. Zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern schwelte ein enormes Konfliktpotenzial: Die Wohnplätze wurden als Zigeunerkolonien stigmatisiert und man war bestrebt, die Zuzügler loszuwerden. In den 1930er-Jahren galten Jenische als arbeitsscheue und asoziale Elemente. Viele landeten in Arbeitslagern. Auch nach dem Dritten Reich blieben viele Jenische bei der fahrenden Arbeit: als Schrottsammler, Hausierhändler und Kleinhandwerker. Die damit einhergehende Armut erlaubte es ihnen nicht aus ihrem Viertel – in Offenburg auch als Waggonia verschrien – wegzuziehen.

Bis in die 1970er-Jahre hatten die Jenischen Mühe, in ein Arbeitsverhältnis zu kommen. Bei Nennung der Adresse im Personalbüro „wurden die Schotten dichtgemacht“, erzählt eine Jenische, die nicht genannt werden will. Auch nach gut zwei Jahrzehnten in Rente will sie nicht, dass ihre ehemaligen Arbeitskollegen erfahren, dass sie „so eine“ ist. Die Jenischen waren immer das, was man als Underdogs bezeichnet. Einmal arm, immer arm. Und irgendwie nicht loswerden kann. Auch heute, gut 40 Jahre später, hat sich wenig verändert. Versuche, den Jenischen näherzukommen, ihre Geschichte aus erster Hand zu erfahren, scheitern meist. Es wird gemauert. Aus Angst. Aus Scham. Sie wurden erst verdrängt und dann verachtet. Vielleicht haben sie das verinnerlicht.

Jenisch als Statement

Ein Einziger spricht offen über das Jenischsein und das Leben im Ghetto rund um den Uhlgraben: Patrick Bierhinkel. Er rappt sich als P-Vers durch die Musikszene. „Wenn ich mich an meine Zeit im Stegermatt erinnere: Das war voller Musik. Die meisten haben musiziert oder getanzt. Da sind wir Jenischen ganz anders als die anderen.“ Er spielt mit diesem Etikett. Jenisch. Es ist Teil seines Images.

„Mein Vater ist ein echter Jenischer“, grinst er. „Ich bin bloß ein halber.“ Seine Großeltern, katholische Schlesier, waren wenig entzückt, als ihre Tochter mit so einem ankam. Aus einer Gegend, in der Gewalt und Kleinkriminalität fast zum guten Ton gehörten. Auch für Mama und Papa Bierhinkel war schnell klar, dass der Stegermatt nicht das allerbeste Umfeld für Patrick und seine Geschwister wäre. Also zog die Familie in den Stadtteil Uffhofen um. Für Patrick aber blieb der Stegermatt wichtiger Anlaufpunkt, Verwandte lebten und leben dort. „Alles, was mich ausmacht, ist vom Stegermatt geprägt“, meint er. Und dann guckt er versonnen vor sich hin und seine Augen leuchten wie bei einem frisch verliebten Teenager. Er erzählt von der Herzlichkeit der Menschen, der Gastfreundschaft. „Wenn ich mittags in meiner Homebase unterwegs war, ging immer irgendwo eine Tür auf.“ Und man wurde spontan zum Essen hereingebeten: „Jeder war für jeden da. Wie auf dem Dorf halt.“

Die bewusste Ausgrenzung habe zu einem starken inneren Zusammenhalt geführt. „Deswegen ist auch unsere Sprache so wichtig. Sie unterstreicht unsere Identität.“ Warum es aber in einer Sprache gleich 25 Begriffe für das männliche Geschlechtsteil gibt, erklärt er so: „Wir sind halt eher rustikal.“ Deswegen waren auf der Straße auch immer mal wieder die Fäuste im Einsatz. Patrick dagegen hat sich beim SV Stegermatt als Fußballer ausgetobt. Und es soll Leute geben, die das auch heute noch in schmerzhafter Erinnerung haben.

Das Jenische soll – so vermuten Sprachwissenschaftler – seine Wurzeln im sogenannten Rotwelschen haben. Der Begriff welsch entstammt dem Mittelhochdeutschen und bedeutet fremdartig oder unverständlich (Kauderwelsch). In der Mitte des 13. Jahrhunderts ist der Begriff Rotwalsch als „betrügerische Rede“ dokumentiert. Der Begriff Jenisch soll auf das Roma-Wort dzin (wissen) zurückgehen und so viel wie „Sprache der Eingeweihten“ bedeuten. War das Jenische zuerst geprägt durch das Jiddische, nahmen später das Elsässische und die Sprache der Sinti und Roma Einfluss. Je nach Landesteil nimmt das Jenische auch eine dialektische Färbung an, die Worte bleiben jedoch dieselben. So können sich zum Beispiel französische Jenische problemlos mit badischen Jenischen verständigen.

#heimat Ortenau Ausgabe 8 (3/2017)

Bierdurst? Wir suchen für Euch die allerbesten und erzählen von einem vergessenen Volk. Außerdem gibt's voll was auf die Nüsse.

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

Versandfertig in 1 - 3 Werktagen.   

Weitere tolle Artikel aus der #heimat

Stephan Fuhrer

Hokkaido? Harakiri!

Als Suppe, auf Pfannkuchen, in der Panade oder auch zermatscht mit Schupfnudeln: Ständig bekommt unser Kolumnist Kürbis serviert, in allen möglichen V...
Kochschule

Richtig beizen und marinieren

Die alte und neue Küchentechnik
... Reportagen Die Jenischen: das vergessene Volk