Die Uhrenkel

Der Schwarzwald steht nicht nur für die Kuckucksuhr, sondern generell für die Uhrmacherei. Das ist bis heute so – auch wenn die Zeiten andere sind…

Text: Stephan Fuhrer · Fotos: Jigal Fichtner

Die Uhren ticken. Tick-tack, tick-tack – wohin man hört. Manche Pendel schlagen schnell und hastig, andere langsam und gemächlich. Hubert Wursthorn hat sich für einen Moment in seine kleine Stube zurückgezogen. Kurz durchatmen, bevor er den Abendgästen in seinem Hotel in Eisenbach das Wildschwein vom Grill servieren wird. Er sitzt auf der Eckbank, den Unterarm auf den Tisch gestützt. „Klingt das Ticken nicht schön?“, fragt er und lächelt selig. „Das ist der Klang des Schwarzwalds!“ Die Stunde wird gerade voll. Ein Kuckuck meldet sich aus einem kunstvoll geschnitzten Gehäuse zu Wort. Dann noch einer und noch einer …

Die großen Pioniere  

Über Hubert Wursthorn könnte man viele Geschichten erzählen. Zum Beispiel die von seinem Bogensporthotel Bad, mit dem er Urlaubern und Einheimischen gleichermaßen einen Sport beibringt, den man bei uns nicht an jeder Ecke ausüben kann. Oder auch von der Kunst, ein ganzes Wildschwein über dem Feuer zu brutzeln, ganz so, wie Asterix und Obelix es auch am liebsten mögen. Die sicherlich beeindruckendste ist aber die Geschichte seiner Familie. Denn Hubert ist der Ururenkel von Johann Baptist Beha – dem Mann, den sie Engländer nannten.

Der Ahne des Eisenbachers ist einer der ganz großen Pioniere, die Schwarzwalduhren einst in die Welt getragen und so entscheidend zu ihrem heutigen Ruf beigetragen haben. Kein Wunder, dass hier im Hotel an jedem Quadratzentimeter Wand eine Uhr vor sich hin pendelt. Man könne ihn gerne Freak nennen, sagt Hubert und grinst. Nicht schlimm, denn genau solche brauche es heutzutage auch, um unser Schwarzwälder Erbe zu erhalten. Denn unsere Uhrmacherei steht an einem Wendepunkt.

In Sachen Kuckucksuhr ist der Kommerz längst stärker als die Tradition – auch wenn einige Uhrmacher diese Entwicklung zuletzt wieder ein bisschen zurückgedreht haben (wie Ihr weiter hinten in unserer Chronik noch sehen werdet). Zudem hat die klassische Uhr digitale Konkurrenz bekommen. Die Smartwatches dieser Welt brauchen weder mechanische Uhrwerke noch geschnitzte Gehäuse. Für die wenig echten Schwarzwälder Uhrmacher steht deshalb nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft eines Berufsstandes auf dem Spiel, der den Schwarzwald wie kaum ein anderer geprägt hat.

Die Geschichte der Behas steht exemplarisch für viele Familien, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert mit ihrer Arbeit dafür gesorgt haben, dass unsere Region noch heute als eines der ganz großen Uhrmacherzentren weltweit gilt. Und das weit über das Thema Kuckucksuhr hinaus, denn sie ist im Prinzip nur ein Markenzeichen der Schwarzwalduhren – wenn auch sicherlich das berühmteste. Gerade in Huberts Heimatörtchen Eisenbach waren die Bedingungen für die Uhrmacherei einst günstig. Die Bauern hatten wenig Land, und nachdem auch noch Ende des 17. Jahrhunderts die Eisenbergwerke stillgelegt wurden, gab es kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Uhren kamen da wie gerufen. Man konnte zu Hause an der Werkbank tüfteln und schnitzen, gerade in den kalten, langen Wintern des Hochschwarzwalds. Mit Holz kannte man sich ja aus. Und auch mit den filigranen Metallarbeiten klappte es mit der Zeit immer besser. So entwickelte sich nach und nach das Wissen für ein besonderes Handwerk, das bald schon in die ganze Welt gebracht wurde – von Pionieren wie dem Engländer.

Johann Baptist Beha ging auf die Britischen Inseln, um neue Kunden zu werben. Daher der Spitzname. Ein mutiges Manöver, das aber erfolgreich war: Ohne die Sprache zu können, kam er mit vollen Auftragsbüchern und neuen Ideen wie der der Tischuhr zurück. Die Schwarzwalduhren waren qualitativ wertvoll, trotzdem günstig – und somit sehr gefragt. Und das nicht nur in England, sondern auch in Ländern wie Spanien, Belgien, Russland oder den USA. Das Glück: Ein Teil der Handelsstrukturen bestand bereits durch die noch ältere Glasbläserei. Das machte manches leichter.

Die Welt zu Gast in Eisenbach

Gut 150 Jahre später gibt es in dem ansonsten eher stillen Dörfchen an diesem Frühlingstag kaum noch einen Parkplatz. Denn inzwischen gehen die Eisenbacher mit ihren Uhren nicht mehr in die Welt hinaus – die Welt kommt zu ihnen. Zur jährlichen Antik-Uhrenbörse reisen Liebhaber aus halb Europa in das Dorf zwischen Furtwangen und Titisee. Sie kommen aus Tschechien, Österreich, Frankreich und sogar aus Irland. Und klar: Auch Hubert Wursthorn ist wieder mittendrin. „Hubert! Lass Dich drücken!“, begrüßt ihn ein Aussteller aus Bremen. „Ich hätte da was, was Dich interessieren könnte.“ Eigentlich hatte sich der Eisenbacher ja vorgenommen, in diesem Jahr nicht wieder selbst auf Einkaufstour zu gehen. „Aber das nehme ich mir immer vor“, sagt Hubert und lacht. Geklappt habe es noch nie.

Smart statt Mechanik

Hubert Wursthorn ist aber eigentlich aus ganz anderen Gründen da. Seit gut 23 Jahren organisiert er inzwischen das Event, bei dem Sammler wertvolle Stücke erhaschen können, Uhrmacher Ersatzteile finden und Laien einen Eindruck davon gewinnen, welche Vielfalt es rund um diese tickenden Wunderwerke so gibt: große Standuhren, kleine Tischuhren, Schilderuhren, Taschenuhren, Armbanduhren und natürlich Kuckucksuhren. Aus Holz, Metall und sogar aus Stein. Da staunen auch die Uhrmacher-Schüler aus der Klasse von Severin Rikl, die aus Furtwangen angereist sind – einem der Uhrmacherzentren des Schwarzwalds schlechthin. „So eine Vielfalt findet man selten“, sagt der Lehrer, der selbst auch immer wieder neues entdeckt – und wenn es nur ein paar kleine, spezielle Zahnrädchen sind, für die der gemeine Besucher ansonsten gar kein Auge hat …

Auch die Uhrmacherschulen bekommen die Veränderungen zu spüren: In Zeiten der Smartwatch, die ihr Signal per GPS aus dem Weltall empfängt, ist ihr mechanisches Know-how immer weniger gefragt. Und trotzdem: Auch wenn es bundesweit immer weniger Uhrmacher gibt, im Schwarzwald lernen die Lehrlinge noch, wie das mit der Zeitmessung nach alter Väter Sitte funktioniert. Bundesweit sind es noch sieben Ausbildungsstätten, drei davon im Schwarzwald – neben der Robert-Gerwig-Schule in Furtwangen gibt es weitere in Villingen-Schwenningen und Pforzheim. „In der Uhrmacherei führt an dieser Region nach wie vor kein Weg vorbei“, sagt Severin Rikl – und lädt uns in seine Lehrstätte ein. Es ist die älteste im Land.

Eine Frage der Geduld

Julien Bischof sitzt an seiner Werkbank und tariert das Uhrwerk einer Armbanduhr aus. Es geht um winzige Sekundenbruchteile, damit eben jene Sekunde so lange dauert wie sie dauern soll. Dabei wird eine Mini-Schraube nach links oder rechts gedreht. Ein hochsensibles Mikrofon nimmt das leise Ticken auf. Ein Computer analysiert die Genauigkeit. So geht Uhrmacherei heute. Auch wenn das Uhrwerk nach wie vor voll mechanisch funktioniert.

Allerdings ist das noch nicht alles, was Julien und seine Klassenkameraden an der Testuhr machen müssen. Dreht man sie auf die Seite, verändert sich der Takt wieder. Dreht man sie auf den Kopf, noch einmal. „Man muss die goldene Mitte finden, das ist das Schwierige“, sagt Ausbilder Jan Reiche. Was man denn an Fähigkeiten brauche, um dieses Handwerk zu lernen? „Geduld“, sagt der Lehrer. „Die ruhige Hand kommt dann von ganz allein.“

Die Auszubildenden in Furtwangen kommen aus ganz Deutschland. Aus dem Ruhrgebiet, der Pfalz oder wie Ole Hoerenz aus Schwerin. Ob er denn gleich gespürt habe, dass die Uhr in dieser Region lange Zeit eine besondere Rolle spielte, wollen wir wissen? „Man merkt schon, dass die Geschichte ihre Spuren hinterlassen hat“, sagt er. Allerdings sei es schade, wie die Kuckucksuhr inzwischen kommerziell ausgeschlachtet würde. Seine Klassenkameraden nicken.

Warum die Schüler das so sehen, erklärt uns Severin Rikl. „Dem Großteil der Kuckucksuhren fehlt inzwischen die Seele.“ Ist das Uhrwerk kaputt – in der Regel ist es ein Massenprodukt minderer Qualität – kann man es eigentlich nur noch wegschmeißen. Reparieren lohne nicht. „Für einen Uhrmacher fehlt da der Reiz.“

Wertvolle Erinnerungen

Bei den Uhren, die in Hubert Wursthorns Hotel an der Wand hängen, sieht das anders aus. Würde man derlei Uhrwerke heute produzieren, sie wären unbezahlbar. Einen Teil seiner Schätze hat der Sammler auch längst nicht mehr zu Hause. Die wertvollsten Exemplare befinden sich in einem kleinen Museum in der Wolfwinkelhalle, in der auch die Uhrenbörse jährlich stattfindet – hinter einer Wand aus Sicherheitsglas. „Manche Uhren sind 20 000 bis 30 000 Euro wert, einige noch mehr“, erzählt uns Hubert.

Um den Geldwert geht es dem Sammler aber nicht, versichert er. Vielmehr um die Geschichte seiner Familie – und um die Heimat. Für eine Uhrmacherfamilie wie die Behas gehört ohnehin beides untrennbar zusammen.

Die Schwarzwalduhr

Die Anfänge der Schwarzwälder Uhrmacherei liegen im Dunkeln. Wahrscheinlich ging es im 17. Jahrhundert los, im 18. nahm das Ganze dann Fahrt auf. Im 19. Jahrhundert dominierten die preisgünstigen Holzuhren aus dem Schwarzwald den europäischen Markt. Um sie an den Mann zu bringen, waren Schwarzwälder Uhrenhändler als Hausierer unterwegs. Je nach Land wurden die Holzzifferblätter ganz unterschiedlich bemalt. Die Franzosen mochten es farbenfroh, die Engländer wollten die Uhren lieber dezenter. In Spanien waren indes Schwarzwalduhren mit Stierkampfszenen beliebt. Die ersten Kuckucksuhren entstanden bereits Mitte des 18. Jahrhunderts. Zum Schwarzwälder Kultobjekt wurden sie allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 19 (2/2020)

Auf Eiersuche: Wir lassen uns von den Wusslers aus Gengenbach was ins Nest legen, verputzen die Wutz und zapfen an Tannen. Zudem erzählen wir, wie (und warum) der Schwarzwald tickt und warum es sich auf jeden Fall lohnt, nach Colmar zu fahren.

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

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