Ukraine-Hilfe aus dem Schwarzwald

Der Krieg in der Ukraine hat uns alle erschüttert. Wer hierzulande helfen will, kriegt seine Chance – z. B. bei diesen starken Hilfsaktionen

Text: Thomas Glanzmann, Barbara Garms, Jennifer Obergföll Fotos: Galina Ens und andere

Wie viele Kisten Tobias Schindler und Marcus Schley in den letzten Wochen entgegengenommen, gepackt und umsortiert haben, wissen sie selber nicht mehr. „Irgendwann standen überall Säcke und Taschen mit Hilfsgütern auf unserem Hof, im Besprechungsraum und in den Schulräumen. Wir sind regelrecht von der Hilfsbereitschaft überrollt worden.“

Eigentlich arbeiten die beiden für die Jugendhilfe Pegasus in Schutterwald. Derzeit aber hat man andere Prioritäten. „Unser Chef Kurt Schley hat sehr enge Kontakte in die Ukraine und so haben wir schon wenige Stunden, nachdem der Krieg begann, den ersten Hilfstransport organisiert – erstaunlich einfach über Textnachricht.“ Drei Stunden später kamen die ersten Menschen mit Hilfsgütern und seitdem reißt der Strom nicht ab. „Klar war auch, dass wir Menschen von der Grenze mit zurückbringen, wenn wir schon da sind. Die Fastnachtsferien hatten gerade begonnen, für ein paar Nächte wollten wir sie in unseren Klassenräumen unterbringen“, sagt die pädagogische Leiterin Lisa Schley. Die Mutter von vier Kindern ist kurzerhand mit Kind und Kegel ins Wohnmobil vor die Schule gezogen. „Wir wollten die Menschen, die hier traumatisiert ankommen, nicht alleine lassen.“ Seitdem packt das ganze Pegasus-Team in jeder freien Minute mit an und der Unterricht der Schüler wird um das Fach Nächstenliebe ergänzt: Betten aufstellen, Kisten sortieren, Trampolin, Rutsche und Sandkasten teilen.

 

Mittlerweile ist so etwas wie Routine in den verrückten Alltag eingekehrt. Simone Schindler, die mit ihren Schützlingen viele Ämtergänge erledigt, kümmert sich um den Papierkram, spricht mit den Behörden, sucht Wohnungen. „Wir sitzen mit unseren Gästen zusammen, fragen sie nach ihren Wünschen und Perspektiven. Das ist oft sehr traurig, gibt ihnen aber auch ein wenig Halt. Wollen sie in Schutterwald bleiben, haben sie Freunde oder Verwandtschaft? Brauchen sie hier eine Wohnung? Können die Kinder in die Schule? Woher bekommen sie Schulmaterial? Dann kümmern wir uns.“ Für 44 Menschen konnte sie mittlerweile eine Unterkunft organisieren, 14 leben noch bei Pegasus – alle mit der Option auf ein neues Zuhause. „Unser großer Vorteil war, dass wir sowieso schon gut organisiert sind, die richtigen Kontakte in die Ukraine haben und so klein sind, dass wir schnell und unbürokratisch helfen können. Stück für Stück geben wir jetzt Aufgaben ab“, sagt Lisa. „Wochenlang haben wir zum Beispiel Kleider sortiert. Die konnten wir jetzt an die Kleiderkammer des Netzwerks Miteinander übergeben.“

Ein weiterer Container wird abgeholt, er geht morgen an die Grenze. Und dann? „Nach den Ferien wird alles wieder normal“, sagt Lisa und alle lachen. „Das ist mittlerweile ein Running Gag. Natürlich geht unsere Hilfe weiter, nur anders. Die Kinder werden wieder ihre Klassen beziehen, aber drei neue Container vor dem Haus beweisen: Hier ist noch lang nicht zu Ende geholfen.“ Lisa sagt: „Wir können niemanden wegschicken. Hier werden wir ein Notfall-Gästezimmer einrichten, darunter ein Lager für Medikamente“, denn schließlich wird demnächst auch noch der geschützte Medikamententransport direkt ins Kriegsgebiet organisiert. Während wir sprechen kommt ein Auto mit Flüchtlingen aus dem Kinzigtal. „Tobias gibt ihnen Lebensmittelgutscheine, die gespendet wurden. Die kennen die Hilfemöglichkeiten bei sich nicht und es hat sich wohl herumgesprochen, dass wir helfen.“

Ein Spendentag wie dieser…

Schnell und unbürokratisch helfen – das ist auch das Motiv der Hilfsaktion um die Spedition beziehungsweise das Umzugsunternehmen DMS Diebold in Offenburg. Gleich nach Kriegsausbruch rief das Team um Geschäftsführer Pascal Ding zu Spenden auf. Über Website, Facebook und Co. teilte das Unternehmen Listen mit benötigten Hilfsgütern und machte auch über die Presse und das Radio auf die Sammlung aufmerksam – Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel und so weiter. Mit dafür zuständig war von Beginn an auch Anja Neff. Sie ist aus privater Initiative Teil des Projektteams und gewann viele ihrer Bekannten aus dem Offenburger Vereinsleben dafür, bei der Aktion mitzumachen. „Ich habe mein Netzwerk überzeugt, mitzumachen“, sagt sie.

„Der Andrang bei unserem ersten Spendentag war riesig“, sagt auch Ursula Bär-Hechinger von der Diebold GmbH & Co. KG, die die Aktion vonseiten des Unternehmens betreut. „Die Menschen bildeten mit ihren vollbepackten Autos eine Schlange von unserem Firmengelände bis draußen auf die Straße.“ Anja Neff erzählt weiter: „Wir hatten geplant, bis 16 Uhr Spenden anzunehmen, konnten die Menschen aber nicht einfach heimschicken und machten deshalb noch bis halb sieben weiter. Danach ging’s direkt ans Verladen und auf in Richtung Ukraine.“ Spediteur Ding stellte dazu den Lkw, das Unternehmen Paschal-Werk G. Maier GmbH, Hersteller von Schalungs- und Rüstungssystemen aus Steinach, den Fahrer. Als weitere Fahrer meldeten sich Freiwillige – denn es waren 30 Tonnen an Spenden zusammengekommen, die mit der Hilfe unter anderem der lokalen Pfadfinder auf zwei Fahrzeuge verladen wurden: einen Hängerzug und einen Crafter mit Anhänger, darin auch Großspenden von anderen Firmen, zum Beispiel eine Ladung voll mit Decken. „Ein unglaublicher erster Spendentag“, sagt Geschäftsführer Pascal Ding. „Wie bei den anderen Beteiligten kommt das bei uns zusätzlich auf den ohnehin schon großen Betrieb obendrauf, aber wenn wir die Hilfsbereitschaft der Menschen sehen, dann machen wir das gern.“

Zum zweiten Spendentag Mitte April sind wir mit auf dem Hof des Unternehmens. Der große Andrang des ersten Spendentags einen Monat zuvor bleibt aus. Trotzdem kommen einige Menschen und geben umzugskartonweise Spenden in die beschrifteten Container – Lebensmittel, Hygieneartikel und so weiter. Eine Frau bringt mehrere Kartons an Hilfsgütern und erzählt uns, dass sie bei sich zu Hause selbst vier Menschen aufgenommen hat, die die Güter in der Menge aber nicht allein aufbrauchen können. Sie hatte sich bei der Gemeinde gemeldet und daraufhin zwei Mütter mit Kind zugeteilt bekommen.

Auch Offenburgs Oberbürgermeister Marco Steffens kommt mit vollen Händen zur Sammlung. „Wir beobachten eine große Solidarität“, sagt er und berichtet zudem: „Rund 350 Geflüchtete sind bis Mitte April zu uns gestoßen.“ Eine große Herausforderung sei, dass es den vielen Frauen und Kindern unter ihnen kaum zuzumuten sei, sie länger in Massenunterkünften unterzubringen. „Um sie unterzubringen, haben wir alle Wohnungsbaugesellschaften zur Hilfe aufgerufen“, sagt er und gibt seine Spende ab. Pascal Ding begutachtet währenddessen das bisher Gesammelte: „Das gibt einen Lkw voll für die Fahrt morgen.“

Freiburg–Ukraine und zurück

Die Zollution GmbH beschleunigte den Warentransport einer ähnlichen Sammelaktion. Das Unternehmen mit einem Standort in Freiburg ist ein Tochterunternehmen der Karl-Dischinger-Gruppe. Zollution ist innerhalb der Gruppe zuständig für die operative zollseitige Abwicklung. Das Unternehmen erreicht für seine Auftraggeber zeitliche Verkürzungen. Die Ausführer von Waren müssen nicht selbst beim Zoll registriert sein, sondern der Dienstleister tritt in die rechtliche Vertretung ein und erlangt die Ausfuhranmeldung. Als eine Gemeinde mit der Ausfuhr von Hilfsgütern auf Zollution zukam, entschied das Unternehmen, den Weg für die Lieferung schnell freizumachen, ohne dafür eine Rechnung auszustellen. „Wir haben gerne unsere Arbeit beigetragen, um diese Hilfsaktion zu unterstützen“, sagt Christine Heigrodt, die Leiterin der Zollabwicklung bei Zollution.

Hilfsnetzwerk genutzt

Die Evangelische Stadtmission Freiburg und das Ladencafé s’Einlädele, ihre Tochtergesellschaft, organisierten nach Kriegsbeginn die Flucht und Überfahrt von 154 Kindern aus einem evakuierten Kinderheim in Kiew. Die Medien berichteten von der Großaktion. Gemeinsam mit dem Friesenheimer Verein Schublade 10 e. V. haben sie zudem eine dauerhafte Hilfe sowohl für die Menschen in der Ukraine als auch die geflohenen Menschen aus der Ukraine auf die Beine gestellt. Der Zusammenschluss hatte bereits die Jahre zuvor viele Tausend Bananenkartons gefüllt mit Bekleidung, Geschirr, Spielzeug, medizinischen Pflegemitteln und vielem mehr unter anderem auch aus Friesenheim über Freiburg in die Ukraine gebracht. Genau so geht die Hilfe auch weiter: „80 Prozent der an uns gespendeten Güter gehen in die Hilfstransporte, generell viel davon nach Osteuropa und jetzt speziell in die Ukraine“, sagt Andrea Königsmann-Schuppler, Vorsitzende von Schublade 10 e.V.

„Die übrigen 20 Prozent gehen in den vergünstigten Verkauf bei uns im Laden, der wiederum Aktionen wie die Hilfstransporte mitfinanziert.“ Die Geflüchteten aus der Ukraine profitieren vom günstigen Verkauf im Laden in Friesenheim und bekommen Gutscheine von der Gemeinde. Als wir mit ihr telefonieren, sind Richtung Ukraine gerade wieder 16 Paletten mit Care-Paketen unterwegs. „Der große Vorteil in unserem Netzwerk war: Die Infrastruktur bestand schon vor Kriegsbeginn.“

s’Einlädele-Geschäftsführer Volker Höhlein sagt: „Vor dem Krieg haben wir einen Lkw pro Monat losgeschickt, jetzt sind es zwei bis drei pro Woche, was so viel wie 40 bis 60 Tonnen bedeutet.“ 18 Lkw, 7 Busse, 50 VW-Busse von privaten Helfern und ein Flugzeug sind so bis Mitte April zusammengekommen. „Aus unserer Arbeit der vergangenen 30 Jahre sind wir vernetzt mit ukrainischen Spediteuren und Fahrern. Auf ihren Routen zurück nehmen sie unsere Hilfsgüter mit in Städte wie Charkiw oder Odessa.“ Gemeinsam mit Projektpartnern vor Ort haben die Helfenden vor dem Krieg unter anderem zwei Seniorenzentren und drei Kinderhäuser aufgebaut.

Aufnahme in der Sporthalle

Beispiele wie diese zeigen, dass es neben dem Weg über die Landeserstaufnahmestelle des Regierungspräsidiums für die Geflüchteten auch den direkten Weg über private Kontakte gibt. Das bedeutet für sie die Aufnahme über den jeweiligen Landkreis. Ein großer Zustrom auch für den Schwarzwald-Baar-Kreis …

Dort verlegten die Behörden die Zentrale Aufnahmestelle nach nur wenigen Tagen Mitte März von der Unterkunft in der Sturmbühlstraße in Schwenningen in die Sporthalle der Albert-Schweitzer-Schule in Villingen. Eine Registrierstraße wurde eingerichtet, auf ihr geht es um den Aufenthaltstitel und die anschließende Unterbringung. Wenn noch nicht vorhanden, erhalten die Personen einen Unterkunftsplatz. Allein im Sozialamt arbeiten derzeit etwa 40 Personen in verschiedenen Schichten und Aufgaben an der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. „Im Durchschnitt sind im Schwarzwald-Baar-Kreis seit Beginn des Krieges täglich etwa 35 bis 40 Personen aus der Ukraine angekommen“, sagt Pressesprecherin Heike Frank. „Ein Teil kommt von der LEA in Freiburg, ein anderer Teil kommt nach Anreise per privat organisiertem Transport direkt zu uns.“ Die Hilfe der Freiwilligen ist unverzichtbar. 200 Ehrenamtliche richteten Mitte März Gemeinschaftsunterkünfte in Donaueschingen und Königsfeld ein.

Die Tafel öffnet die Türen

Noch einmal zurück in die Ortenau: Die Leiterin der Lahrer Tafel, Ingrid Schatz, sagt: „Wir spüren soziale Krisensituationen immer unmittelbar.“ So hätten die geflüchteten Frauen aus der Ukraine mit als Erstes an ihre Tür geklopft. Wie alle anderen Kunden der Tafel bekommen sie eine Kundenkarte. Allein im März und April habe die Lahrer Tafel schon so viele ausgestellt wie sonst in einem ganzen Jahr, nämlich rund 200 Stück. „Wenn die Papiere mal nicht vollständig waren, haben wir unbürokratisch geholfen“, sagt Ingrid Schatz. Eine Hilfe sind dabei auch die Einkaufsgutscheine, die in Spendenaktionen der Kirchen und dank der BZ-Weihnachtsaktion zusammengekommen waren.

Um den angekommenen Kindern den Schulalltag zu erleichtern, richtete die Tafel zur sonst in den Sommerferien stattfindenden Schulaktion eine zusätzliche Ausgabe von Schulmaterialien ein. „Viele Familien aus Lahr haben uns dafür Schulranzen und andere Materialien gebracht. Genauso unterstützen uns – wohl auch durch den medialen Push – neue Freiwillige. Das fängt dabei an, dass uns gefühlt eine Rekordzahl an Menschen Lebensmittel bringt, wie wir das sonst nur aus der Weihnachtszeit kennen.“ Trotzdem hofft die Tafel in Lahr auf weitere Unterstützung, etwa auch durch eine angemessene Verteilung der ankommenden Menschen. „Lange können wir auf diesem Niveau nicht durchhalten“, sagt Leiterin Ingrid Schatz. Am Tag unseres Telefonats kommen daraufhin 173 Einkäufer in die Tafel, das Vorkriegsniveau lag um gut ein Drittel niedriger.

Wie kommen die Menschen an?

Nicht alle, aber doch viele Menschen aus der Ukraine kommen bei der Landeserstaufnahmestelle (LEA) in Freiburg oder ihrer Außenstelle in Offenburg an. Bis Mitte April sind über sie 2400 Menschen gemeldet worden. Im Gegensatz zu Asylbewerbern aus anderen Ländern gilt für die Ukrainer der Schutzstatus für Kriegsflüchtlinge nach Paragraf 24 aus dem Aufenthaltsgesetz, die Wohnsitzverpflichtung gilt für sie nicht, weshalb sie nicht an die Unterkünfte der LEA gebunden sind. Der Referatsleiter für die Flüchtlingsaufnahme am Regierungspräsidium Freiburg, Dr. Peter Kramer, sagt: „Die Menschen aus der Ukraine machen derzeit 90 Prozent der zu uns kommenden Menschen aus. Wir erleben wahnsinnig viel ehrenamtliches Engagement, und das ist angesichts der Situation von unschätzbarem Wert.“ Die Asylbewerber- bzw. Sozialleistungen und ihren Aufenthaltstitel für zunächst ein Jahr können sie entweder in der LEA oder in einer anderen Aufnahmestelle beantragen. Um nicht zum Corona-Hotspot zu werden, werden alle getestet, die neu dazukommen oder verlegt werden.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 32 (3/2022)

Der Schwarzwald hilft den Menschen aus den Ukraine und wir erzählen davon. Denn wir finden: Heimat ist ein Menschenrecht. Punkt. Und: Auch klar, dass wir in dieser Ausgabe noch viel mehr Themen haben, die es zu entdecken gilt: von den Tortora-Brüdern und ihrer Pizza La Foresta Nera bis zu Badens neuem Weingärtner.

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