Museums-Check: Deutsches Epilepsiemuseum in Kehl-Kork

Das Museum klärt auf über die „Krankheit der 1000 Namen“ – die überraschend viele Spuren in der Kunst hinterlassen hat

Text: Anita Rüffer Fotos: Michael Wissing

Ein Museum, das sich einer Krankheit widmet: Das gibt es nicht so häufig. In Kork findet sich eins, das sich mit dem Thema Epilepsie befasst. In dem kleinen Kehler Ortsteil ist eines der führenden Epilepsiezentren Deutschlands beheimatet. Der Mediziner Hansjörg Schneble (82) hat das Zentrum von 1985 bis 2005 geleitet und alles zu der mythenumrankten Erkrankung gesammelt, was ihm unter die Augen kam. Seit 1998 breiten sich die unzähligen Exponate in den beiden oberen Stockwerken einer denkmalgeschützten ehemaligen Essigfabrik im Ortskern von Kork aus. Die Stadt hat dem Sammler die Räume zur Verfügung gestellt.

Nicht nur begeisterte Internetkommentare aus aller Welt lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Epilepsiemuseum um etwas Einzigartiges handelt. Schließlich ist die Krankheit, der sich das Museum widmet, keine banale Erkältung. Wer sich von Hansjörg Schneble durch seinen „Familienbetrieb“ führen lässt, taucht tief ein in einen Kosmos aus Medizin, Sozial- und Kulturgeschichte und trifft dabei auf unglaubliche Mythen, Anekdoten, Aber- und Wunderglauben. Das beginnt bei den Gesetzestafeln des babylonischen Königs Hammurabi aus dem Jahr 1700 vor Christus, mit denen eine großformatige Zeittafel zur Geschichte der Krankheit einsetzt: Wer einen Sklaven erwarb, der unter Epilepsie litt, hatte ein Rückgaberecht. Einfache Diagnoseverfahren sollten Klarheit schaffen. Eine Darstellung zeigt eine mit Wasser begossene, sich drehende Töpferscheibe, mit der ein Flackerlicht erzeugt wurde, das epileptische Anfälle auslösen konnte – für Schneble das EEG der Antike.

Aufräumen mit Vorurteilen

Der Arzt hat in seiner Sprechstunde immer wieder Jugendliche angetroffen, die nach einem Discobesuch rätselhafte Anfälle erlebten, steif oder bewusstlos wurden, Schaum vor dem Mund hatten, in seltsame Zuckungen verfielen. „Ein sogenannter großer Anfall kann furchtbar aussehen“, sagt der Neurologe. Er kann durch alles Mögliche ausgelöst werden: Fieberkrämpfe bei kleinen Kindern, ein versehentlicher Stromschlag, Durchblutungsstörungen, Schlafmangel, Alkohol. Von Epilepsie spricht der Neurologe erst, wenn solche Anfälle immer wieder auftreten. Schneble wäre kein leidenschaftlicher Mediziner, wenn er sein Museum nicht nutzen würde, um aufzuräumen mit Vorurteilen, die jahrhundertelang zur Ausgrenzung von Epilepsiekranken beitrugen. Nein, Epilepsie ist keine Erbkrankheit. Nein, sie ist nicht unheilbar. Nein, sie hat nichts mit einer Geisteskrankheit zu tun. „Epilepsie ist eine neurologische, keine psychiatrische Erkrankung“, stellt er klar.

Infotafeln bringen die Fakten kurz und knapp auf den Punkt. Eigenhändig hat Hansjörg Schneble gezeichnet, was im Gehirn vorgeht bei verschiedenen epileptischen Anfallsformen, die das ganze Gehirn oder nur einen umgrenzten Herd erfassen können. Auch Laien können mühelos erkennen, was es auf sich hat mit den Ladungen in den Zellen und wie sie sich umkehren können. Aufnahmen mit dem Elektronenmikroskop ergänzen die Einblicke in die wundersame Wirkungsweise unserer Hirnzellen.

Mehr als 300 alte Bücher vom 17. bis 19. Jahrhundert über die „Krankheit der 1000 Namen“ – so der Titel eines eigenen Werkes – hat Schneble gesammelt. In einer Vitrine findet sich etwa das Original einer Doktorarbeit von 1687 über „die Krankheit, vor der man ausspuckt“. So hoffte man, sich vor Ansteckung zu schützen (die es nicht gibt) und die Dämonen fernzuhalten, die dafür verantwortlich gemacht wurden.

Von Dutschke bis Snowden

Die seltsamsten Behandlungsmethoden haben die Altvorderen sich ausgedacht. Wir sehen Abbildungen, auf denen den Betroff enen während eines Anfalls brutal auf den Kopf geschlagen wird, um die bösen Geister daraus zu vertreiben. In einer Vitrine findet sich ein Pulver aus zermahlenen menschlichen Schädelknochen oder die Duftdrüse eines kanadischen Bibers, deren Sekret als Antiepileptikum in jeder Apotheke vertrieben wurde. Die schönen alten Apothekengefäße sind Futter für die Augen, ebenso die großen Abbildungen diverser Pflanzen wie Johanniskraut oder Pfingstrosen: Ihre Blüten fallen durch ihre Signalfarben auf, die die Geister abschrecken sollten.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten chemischen Präparate entdeckt, zunächst eher zufällig. Seit den 90er-Jahren werden sie in großer Zahl gezielt entwickelt. Eine ganze Vitrine ist damit gefüllt. Sie dürften, ebenso wie die großen Fortschritte in der Hirnchirurgie, dem heiligen Valentin eine Menge Arbeit abnehmen: Unter den 40 Epilepsieheiligen ist er der wichtigste. Mit unzähligen Votivtafeln ist er im Museum vertreten. Über eine Treppe gelangen wir ins Dachgeschoss und werden empfangen von einer Wand voller Porträts von Berühmtheiten, von Caesar bis Edward Snowden. Auch APO-Mann Rudi Dutschke litt nach dem Attentat, das auf ihn verübt wurde, unter epileptischen Anfällen. Einer kostete ihn in der Badewanne das Leben.

Unter der Dachschräge finden sich unzählige Spuren, die die Krankheit in der Kunst hinterlassen hat: Gemälde und Skulpturen, auch von Betroffenen selbst, und Bücher über Bücher: Hansjörg Schneble hat sie alle gesammelt, in Vitrinen ausgestellt mitsamt den vergrößerten Textstellen zur Epilepsie. Dostojewski hat die eigene Krankheit, mit der er sogar Glücksgefühle verband, in zahlreichen Werken verarbeitet. Ihm ist eine eigene Vitrine gewidmet.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 44 (3/2024)

Endlich ist draußen alles grün und das feiern wir in der neuen Ausgabe – mit neu interpretierten Spargelgerichten, knallroten Erdbeeren und den besten Rezepten für einen echten italienischen Aperitivo auf dem Balkon. Jetzt, wo die Urlaubssaison langsam losgeht, findet ihr bei uns jede Menge Ideen für Ausflüge und Abenteuer im Schwarzwald: vom Microcamping mit dem Camper Van auf außergewöhnlichen Spots über Fußballgolf bis hin zu Freilichtmuseen. Natürlich haben wir auch wieder spannende Persönlichkeiten aus der #heimat wie Zoodirektor Matthias Reinschmidt, den Offenburger Künstler Stefan Strumbel oder Europa-Park Sommelier Vincenzo De Biase für euch getroffen und ausgefragt.

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