Gut behütet

Der Schwarzwald ist im Aufbruch – genau wie der Bollenhut. Eine Gratwanderung zwischen Tradition, Kunst und Heimatgefühl

Text: Stephan Fuhrer · Fotos: Jigal Fichtner

In der Ecke bollert der Ofen. Vergilbte Familienbilder an den Wänden erzählen von vergangenen Tagen. Die Zeit scheint in der Stube des alten Schwarzwaldhofs stillzustehen. An der urigen Schilderuhr im Eck fehlen sogar die Zeiger. In dem niedrigen Raum ist es dunkel. Weil die Jahrhundertealten Holzwände und -möbel das Innenleben in ein düsteres Licht tauchen. Aber auch, weil die hohen Schwarzwaldberge draußen vor dem Fenster nur wenigen Sonnenstrahlen Einlass in die Stube gewähren. 

Daheim beim echten Bollenhut

Auf der Eckbank sitzt Gabriele Aberle wie in ein altes Gemälde hineingepinselt und schnippelt mit ihrer Schere an einem roten Bollen. Schnipp, schnapp, ganz schnell geht das bei ihr. Das muss sie allerdings bei jeder einzelnen der 14 Kugeln, die später kreuzförmig auf dem Hutgestell drapiert werden, gleich mehrfach wiederholen. Nur so werden die Bollen des berühmtesten Schwarzwälder Trachtenhuts am Ende flauschig und ansehnlich. Bis zu einer Woche braucht die Bollenhutmacherin, um so ein Original mit allem Drum und Dran fertig zu bekommen. Zwei Kilogramm Wolle gehen dabei drauf. Fast genauso schwer ist am Ende der fertige Hut, der vorher noch mit Gips in Form gebracht wird. Gabriele Aberles Finger sind kalt an diesem frischen Herbstmorgen. Der Ofen bollert noch nicht allzu lange.

Das ist er also, der alte Schwarzwald, der wohl nirgends so authentisch daherkommt wie hier im Freilichtmuseum Vogtsbauernhof – der obendrein auch noch im Gutachtal liegt, der Heimat des echten Bollenhuts. Auf sieben Hektar Museumsfläche erfahren Besucher aus aller Welt, wie mühselig und dann doch irgendwie romantisch das Leben in den Schwarzwaldhöfen einst gewesen ist. Der einzig sichtbare Kompromiss zur Neuzeit auf dem Gelände sind die Blitzableiter auf den Dächern. Wäre auch zu schade, wenn diese beeindruckende Schwarzwälder Geschichte aus Holz und Stroh einem gleichgültigen Gewitter zum Opfer fiele …
 
Warum wir gerade hierhingekommen sind? Weil man in dieser historischen Kulisse nicht nur vom alten, sondern auch vom neuen Schwarzwald erzählen kann. Denn kaum zu glauben: Beides liegt wohl nirgends so nah beieinander wie in dem bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebten Freilichtmuseum. Die Besucher spazieren auf dem Weg zum Eingang bereits an einem ganz anderen Schwarzwald vorbei. Einem leuchtenden, einem bunten, frechen.

In der Bahnunterführung hat sich Stefan Strumbel mit der Spraydose verewigt. Im Museumsladen gibt es die modernen Trachtenmotive von Sebastian Wehrle zu kaufen. Und unweit des Museums hat dessen ehemaliger Partner, Modedesigner Jochen Scherzinger, einen Pop-up-Shop eröffnet. Beide zusammen hatten vor ein paar Jahren mit dem düster-schönen Bollenhut-Motiv von Scherzingers Freundin Kim mit Nasenring eine Trachtenrenaissance ausgelöst. Manche sagen sogar, sie hätten den Blick auf den Schwarzwald, wie man ihn vorher hatte, einmal komplett auf Links gedreht. Inzwischen gehen die beiden nach einem Rechtsstreit allerdings getrennte Wege.

Gewollte Irritation

Aber: Woher kommt eigentlich überhaupt dieser Mythos Bollenhut? Was macht ihn so besonders, so anziehend? Und woher kennt ihn die ganze Welt? Dazu gibt es einige Theorien. Die Ästhetik der ins Auge stechenden, heimeligen Bollen spielt dabei sicher eine Rolle. 

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat diese in Gutach auch auswärtige Künstler wie Wilhelm Hasemann oder Curt Liebich in ihren Bann gezogen – heute als Gutacher Künstlerkolonie bekannt. Sie ließen sich im Mittleren Schwarzwald nieder und entdeckten den Bollenhut für ihre Bilder. Die Werke gingen als Postkarten in die Welt – und prägten so das Bild des Schwarzwalds. Es hat bis heute Bestand. 1950 kam dann noch das „Schwarzwaldmädel“ in die Kinos, das Mittelgebirge mit seinem Bollenhut wurde zur gesamtdeutschen Sehnsuchtskulisse, zum Urbild deutscher Tradition. 

Offenbar wiederholt sich momentan die Historie. Wieder sind es Künstler, die dieses alte Motiv in eine neue Zeit holen. Wieder Bilder, Postkarten. Genau dort also, wo das ursprüngliche Schwarzwaldbild eigentlich entstanden ist, erzählen mittlerweile tätowierte Trachtenträgerinnen und bewaffnete Schwarzwaldmädle eine ganz neue Geschichte von Heimat. Die Motive des Offenburger Künstlers Strumbel in der Bahnunterführung, eine Bollenhutträgerin als Madonna etwa oder eine Kirschtorte mit Totenkopfdekor im Pop-Art-Stil – sie irritieren. Und das wohl auch so manchen ausländischen Gast, der auf seiner Reise vielleicht eher dem klassischen Bild vom Trachtenmädchen mit Bollenhut nachspürt.

Doch was einst so malerisch begann, offenbarte mit der Zeit eben auch seine kommerzielle Kehrseite: Viele Jahrzehnte lang wurde das Klischee der Bollenhut tragenden Schwarzwälderin in den Tourismus-Zentren der Region in Form von Kitsch und Gedöns gnadenlos ausgeschlachtet. Plastik-Bollenhut-Mädle aus Taiwan stehen bis heute in zahlreichen Souvenir-Shops zwischen Gutach und dem Schluchsee neben nachgeahmten Kuckucksuhren und Lederhosen. Klar: Für viele Touristen aus der großen weiten Welt prägen diese Symbole noch immer ihr Deutschland-Bild. Doch viele Kunstschaffende aus der Region wollten dem Ausverkauf der Heimat offensichtlich nicht mehr tatenlos zusehen.

Stefan Strumbels vermummte, bewaffnete Bollenhutträgerin mit der provokanten Überschrift „Who killed Bambi“ (frei übersetzt: Wer zerstört unsere Heimat?) war da nur der Anfang einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Es folgten bis heute viele weitere Künstler und Fotografen, die die Schwarzwaldsymbole mal ironisch als in sich verstrickte Trachtenträgerinnen (Bernhard Hauns, Iffezheim) auf die Leinwand pinseln oder die Traditionen wieder kunstvoll direkt aus dem Kitsch heraus in ein neues Licht rücken, wie die Freiburger Fotografin Michaela Kindle.

Hutmacherin ohne Hut

Was es mit der eigentlichen Geschichte der Bollenhuttracht auf sich hat, wie sie hergestellt wird und dass es sich dabei um eine evangelische Festtagstracht handelt, davon berichten die Bilder und Fotos freilich wenig. Das erzählt dann Gabriele Aberle Museumsbesuchern bei ihren gelegentlichen Visiten im Vogts­bauernhof. Auf dem Tisch in der Stube platziert die Gutacherin ihre Hutsammlung aus den unterschiedlichen Epochen und den verschiedensten Produktionsstadien. Ein schwarzer, so wie ihn in Gutach und den beiden weiteren Bollenhutgemeinden Kirnbach und Hornberg-Reichenbach – mehr gibt es nämlich nicht – nur Verheiratete tragen, ist auch darunter.

Gabriele Aberle selbst hat dann eine alte Arbeitstracht an. Sie trägt keinen Hut, nur ein Kopftuch. In die Bollenhuttracht würde sie nicht mal für ein Fotoshooting schlüpfen. Schon gar nicht mit roten Bollen. Da kann #heimat kommen, das Fernsehen, wie schon so oft, die Süddeutsche oder sonstwer. „Das verbietet die Tradition“, sagt sie. Auch in Sachen Kundschaft hält sich die Hutmacherin an alte Regeln. Jeder Interessent muss ihr ganz genau erklären, warum er einen Bollenhut haben möchte. Oft genug lehnt sie ab. Für den Karneval oder Jetset-Partys gibt es von ihr jedenfalls kein Original …

Traditionen sind Gabriele Aberle wichtig. Genauso wie die Anerkennung der Trachtengeschichte und der Handarbeit. Von komplett entfremdeten Totenkopf-Motiven mal abgesehen, beäugt sie das neue Schwarzwaldbild dennoch wohlwollend. Auch wenn ihr eines nicht passt: Wenn mit der Tracht und ihren Trägern respektlos umgegangen werde, wie sie sagt. Und damit meint die Bollenhutmacherin nicht die tätowierten jungen Dinger mit Nasenring. Sie mag es einfach nicht, wenn Traditionen kreuz und quer durcheinandergewürfelt werden. Das Porträt von Scherzingers Freundin Kim etwa, oben Bollenhut, unten das Gewand einer Glottertäler Tracht: „Ich finde es nicht schade wegen unserem Hut. Den kennt man. Es ist schade für die Tracht, zu der eigentlich das schöne Schnapp­hütle gehört“, sagt Gabriele Aberle.

Die Sau mit dem Bollenhut

Das Schöne im Schwarzwald ist: Man redet miteinander. Sowohl bei Scherzinger als auch bei Wehrle, die unabhängig voneinander auch weiter den unterschiedlichsten Schwarzwälder Trachten ein neues Gesicht geben, ist die Kritik aus den Vereinen angekommen. Mittlerweile achten beide Künstler darauf, dass sie ihre Models möglichst in originalgetreue Kleidung stecken (so auch Wehrles Eisprinzessin in Villinger Tracht auf dem Titel dieser Ausgabe). Was sie allerdings nicht kontrollieren können, ist der Boom, den sie mit ihren Bildern ausgelöst haben. Denn längst ist auch die regionale Werbung auf den Trachtenzug aufgesprungen. Besonders im Fokus dabei: ganz klar, der Bollenhut. 

Da ist der Metzger aus dem Südschwarzwald, der seiner Sau auf dem Werbe-Flyer einen Bollenhut aufsetzt. Da ist das Schwarzwald-Mädle mit Pinsel in der Hand, das den Heimatmaler-Betrieb anpreist, der Tiefkühlkuchenbäcker mit Bollenhut und Tortenstück oder die Limonade, die mit Axt schwingender Trachtenträgerin beworben wird: Was bei einen als pfiffige Idee ankommt, empfinden andere als Zumutung. Vor allem die, die sich länger mit der Tracht beschäftigen und wissen, wie aufwendig die Herstellung dieser kunstvollen Kleidung ist. „Der Bollenhut ist wider Willen die ärmste Hure des Schwarzwalds“, sagt die Glottertäler Trachtenschneiderin Stefanie Kunert – und wird noch deutlicher. „Jeder rammelt auf ihm herum, um mit seiner Plakativität für die eigene Sache zu werben.“ Sie müsse das so klar sagen, weil sich kaum noch jemand für das wahre Objekt interessiere. „Das hat der Bollenhut nicht verdient!“

Stefanies Anliegen ist insofern das gleiche wie das von Hutmacherkollegin Aberle: Anerkennung für Handwerk, Tradition und Kultur. „Die Trachten im Schwarzwald sind ein besonderer Schatz, den wir nicht mit Füßen treten sollten“, mahnt sie. Das schließe eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema zwar nicht aus, „aber Kunst ist es meiner Meinung nach nur, wenn auch eine gedankliche Hinterfütterung dahintersteckt“. Wenn eine Bollenhutträgerin den Stinkefinger zeige, könne sie diese nirgends erkennen.

„Man muss auch unterscheiden können“

Um die Sensibilität der Trachtengemeinschaft weiß besonders Siegfried Eckert. Denn er ist nicht nur Gutachs Bürgermeister, sondern gleichzeitig Vorsitzender des Bundes Heimat und Volksleben, dem Dachverband für Trachten- und Brauchtumsvereine im Badischen. Und ganz klar: Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Tracht sei sowohl in seiner Gemeinde als auch in den Trachtengruppen ein Riesenthema. Aber im Großen und Ganzen ein positives, „schließlich sind viele Vereine froh, dass sie wieder verstärkt Aufmerksamkeit bekommen.“, wie er sagt. Selbst in seinem Ort, dem Schwarzwälder Bollenhut-Epizentrum, sei das zu spüren. In diesem Jahr kamen in Gutach alle Konfirmanden in Tracht zur Kirche. Das erste Mal seit 15 Jahren wieder. „Man muss gegebenenfalls auch mal zwischen Kunst und Tradition unterscheiden können“, sagt der Bürgermeister dann noch. Und wo Unmut entstehe, müsse man miteinander reden. Da hat Siegfried Eckert sicher recht. Denn eigentlich gibt es auch gar keinen alten und neuen, es gibt nur den einen Schwarzwald – unsere Heimat. Und in der sollte genug Platz sein für Tradition und Kunst. Beides tut dem Schwarzwald gut. 

Und was sagt Ihr dazu?

Könnt Ihr vom Bollenhut gar nicht genug kriegen oder könnt ihr ihn langsam nicht mehr sehen? Teilt es uns mit, wir freuen uns auf Eure Meinung: www.facebook.com/heimatschwarzwald

#heimat Schwarzwald Ausgabe 13 (4/2018)

Wir stellen die Bollenfrage, ergötzen uns an geschmückten Kühen und holen die Netze ein. Außerdem blicken wir mal tief in den Schwarzwälder Nachthimmel.

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

Versandfertig in 1 - 3 Werktagen.   

Weitere tolle Artikel aus der #heimat

Reportagen

Dresdner Schmollen

Der Schwarzwald kann nur Kirschtorte? Pah! Wir haben Stollen, die nicht nur vom Gourmetpapst geadelt sind…
Menschen

Ein Tag in einer badischen Backstube

Backen ist ihre Leidenschaft – und probieren unsere. Wir haben Konditormeisterin Marina mal über die Schulter geschaut
Menschen

Ein perfekter Angelmorgen: Der Fischer von Rheinhausen

In Rheinhausen gibt es noch Männer, die morgens zum Angeln rausfahren. Ohne ihre Frauen wäre das aber nicht möglich …
Stephan Fuhrer

Vom Saulus zum Paulus

Die Sauce klebt in der Nase, das Brot liegt auf dem Boden und die Gabel wird in die Tischplatte gerammt: Die kleine Tochter unseres Kolumnisten hat di...
... Reportagen Gut behütet