Warum der Wald so wichtig für uns ist

Viele von uns kennen ihn aus Jugendtagen und sind lange nicht mehr dort gewesen. Dabei können nicht nur unsere Kinder im Wald vieles fürs Leben lernen

Text: Stephan Fuhrer · Fotos: Jigal Fichtner

Wenn die vergangenen Monate etwas Gutes hatten, dann dass wir in Zeiten des Shutdowns unsere natürliche Umgebung wieder mehr wahrgenommen haben. Zum Beispiel unseren Wald. Warum das gut ist? „Weil er nicht nur Erholungsort, sondern auch eine wichtige Lebensschule ist“ – erklärt uns Walter Voß, Waldpädagoge des Landratsamtes Ortenaukreis, auf einem Spaziergang durch den Rammersweierer Forst.

Und in der Tat lernen wir an diesem Vormittag eine Menge. Etwa, dass die große Eiche vor uns bis zu 200 Liter Wasser am Tag benötigt (und fast die gleiche Menge wieder in die Atmosphäre abgibt). Schlagartig wird klar, wie die Dinge zusammenhängen. Wird der Boden trockener, haben die Bäume ein Problem. Sterben sie, geben sie auch keine Feuchtigkeit ab. Die Folge: weniger Regen. Ein Teufelskreis. Die Geschichte mit dem CO2 und dem Sauerstoff ist dann noch mal eine andere. Doch wir erfahren noch viele weitere Dinge. Denn in der Waldpädagogik geht es nicht nur um Zusammenhänge und Naturschutz – sondern auch um echte Gefühle, wie uns der Experte bei einer Rast auf einer Lichtung sehr anschaulich vermittelt …

Herr Voß, wer im Schwarzwald aufwächst, hat von Kindesbeinen an mit dem Wald zu tun. Wir haben fast alle Hütten gebaut, sind auf Bäume geklettert und haben die ein oder andere Blindschleiche gequält. Was fasziniert uns eigentlich so an diesem Ort?

Das mit den Blindschleichen habe ich überhört … Meine kindliche Missetat war übrigens, ein Vogelnest zu beschützen und dabei die brütenden Eltern zu verscheuchen. Aber das nur mal so. Die Faszination sind für mich die großen, alten Bäume, die von vergangenen Zeiten erzählen und noch immer jedes Jahr austreiben. Morgennebel, Tautropfen auf den Blättern, einzelne Lichtfinger im Kronendach – all diese Erfahrungen und Erlebnisse berühren uns und stillen tiefe Bedürfnisse.

Als Waldpädagoge sind Sie regelmäßig im Wald. Gibt es da auch für Sie noch Neues zu entdecken?

Natürlich! Ich komme in den Wäldern des ganzen Landkreises herum. Da ist immer Veränderung angesagt. Am spannendsten sind für mich die skurrilen Baumgestalten, die sich nach einem Blitzschlag oder Sturm ergeben und immer noch weiter zum Licht streben. Dabei entstehen Gestalten mit Charakter. Mein neuestes Fundstück ist ein dicker Kiefernast, der sich um 400 Grad gedreht hat.

Das klingt spannend, aber was können wir denn daraus konkret lernen?

Sobald man eine längere Zeit seinen Lieblingsort im Wald beobachtet, findet man immer etwas Schönes und Lehrreiches. Lernen ist eine intuitive Handlung. Im Wald geht es um sauberes Wasser, gereinigte Luft und vieles mehr. Der Respekt vor und die Liebe zur Natur ist die Grundlage dafür, dass es uns gut geht – denn ohne Wald geht es nicht.

Wenn nicht gerade Pandemie ist, sind Sie viel mit Schulklassen im Wald unterwegs. Was genau machen sie da mit den Schülern?

Bei Schulklassen wähle ich den passenden Wald für das gewünschte Thema aus. Möglichst nahe an der Schule, dann können die Kinder am Wochenende mit ihren Eltern noch einmal dorthin. Gerne hole ich sie auch auf dem Schulhof ab, da spürt man schon, ob sie gerade kaputt von einer Klassenarbeit sind oder schon viele Fragen zum Wald haben. Etwas später haben die Schüler endlich mehr Platz im Wald, sitzen nicht so eng wie im Klassenraum und dann geht es erst richtig los. Das eigentliche Thema zeige ich an echten Beispielen, etwa an einem Ameisenhaufen. Waldpädagogik ist Anschauungsunterricht.

Hand aufs Herz: Gefällt so was den Kindern in Zeiten von TikTok und iPad überhaupt noch?

Bei dem ein oder anderen dauert es seine Zeit. Viele verändern ihr Verhalten auch im Laufe des Waldunterrichts. Die Situation ist schließlich eine andere als im Klassenzimmer. Wir sind an der frischen Luft und ich lege auch nicht gleich direkt mit Unterricht los. Viel wichtiger ist, die Kinder und Jugendlichen ankommen zu lassen. Wenn dann bei den Ersten die Augen leuchten und sie mir an den Lippen hängen, weiß ich, dass ich es geschafft habe. Aber klar: Jeden einzelnen kann man nicht erreichen.

Was ich paradox finde: In Märchen steht der Wald oft für Dunkelheit und Angst. Gelegentlich stehen sogar Hexenhäuschen rum. Ist das nicht kontraproduktiv, wenn wir unseren Kindern solche Geschichten erzählen?

Nein, es gibt doch nichts Schöneres, als Märchen zu erzählen und in Fantasien zu schwelgen! Oft ist es so, dass Kinder mit einer gewissen vorsichtigen Angst, aber auch einer ausgiebigen Neugier in den Wald gehen. Ich werde aber nie nach Hexenhäuschen gefragt, sondern viel häufiger nach Wildschweinen.

Muss man denn vor denen Angst haben?

Ich bin jetzt seit 50 Jahren im Wald und vor mir sind die Schweine konsequent weggelaufen. Insofern: Man muss sie nicht provozieren, aber sich auch nicht vor ihnen fürchten.

So ein Wald hat ja immer etwas Mystisches. Hatten Sie selbst mal Angst?

Angst nie, aber mystisch war es schon sehr oft. Wenn die Natur ihren Zustand wechselt. Wenn die Vögel morgens um halb vier beginnen zu singen und die Natur zum Leben erwacht. Dann kommt die Morgendämmerung. Die Sonne ist noch nicht zu sehen, man nimmt nur diffuse Schatten wahr. Ein geglaubter Rehkopf wird zu einem sich harmlos im Wind bewegenden Farnwedel. Und wenn dann noch Nebel dazukommt …

… Sie werden ja richtig poetisch!

Stimmt, vielleicht ist das ja mein Ausdruck von Zuneigung. Sonst könnte ich diesen Beruf auch gar nicht machen. Aber es geht hier nicht nur ums Liebhaben, der Wald steht auch für unser Dasein und wie wir damit umgehen. Ohne Bäume, ohne die grüne, belebte Natur hätten wir keine Lebensgrundlage. Wir brauchen Sauerstoff zum Atmen und Wasser zum Trinken. Und man muss sich dessen bewusst sein, dass die Wälder dafür einen sehr, sehr gewichtigen Teil beitragen – Stichwort CO2-Umwandlung, Stichwort Trinkwasserquellen. Und deshalb müssen sie auch besonders geschützt werden.

Gerade in diesen Zeiten ist der Wald auch für viele Erwachsene ein Rückzugsort geworden. Freut Sie das?

Ja! Die Natur zu erleben, tut unserer Seele gut. Sich im Wald zu bewegen, ist ein unheimlich guter Ausgleich. Und das Ganze ist nachhaltig. Denn: Nur was man schätzt, das schützt man auch. Das ist ohnehin einer der wichtigsten Grundsätze der Waldpädagogik.

Waldbaden, Wandern, Mountainbiking: Unsere Wälder werden auch immer häufiger für Freizeitaktivitäten genutzt. Haben Sie Sorge, dass das mal zu viel wird?

Das stimmt tatsächlich, dass es im Wald immer häufiger um Action geht. Aber das begrüßen wir aus den genannten Gründen außerordentlich. Je mehr Menschen im Wald sind und das genießen, desto besser lernen sie ihn kennen. 99 Prozent verhalten sich auch absolut korrekt. Dem Rest versuchen wir zu erklären, was wichtig ist – zum Beispiel, dass man im Sommer nicht im Wald rauchen sollte.

Bei uns im Schwarzwald geht es noch vergleichsweise ruhig zu. Wer die Einsamkeit sucht, der findet sie. Was aber ist das Besondere an unseren Wäldern?

Die Vielfalt. Von der Rheinebene über die Vorbergzone bis hin zum Feldberg auf knapp 1500 Metern ist bei uns alles da. Entsprechend unterschiedlich sind die verschiedenen Ecken. Wir haben viele Täler, geheimnisvolle Orte, Wasserfälle, Hochmoore, uralte Bäume und sicherlich noch viele unentdeckte Schätze. Das macht den Schwarzwald so spannend!

Und Sie wissen doch sicherlich, wo der Wald bei uns am schönsten ist, oder?

Immer dort, wo man sich wohlfühlt. Und besonders schön ist er wohlmöglich nicht immer in der Nähe von Wanderparkplätzen, sondern an Orten, die man erst mal erlaufen muss. Wo man eine schöne Aussicht hat und den Blick schweifen lassen kann. Das ist in Zeiten, in denen wir unentwegt auf Bildschirme und Handys starren, erwiesenermaßen eine Wohltat für unsere ansonsten sehr angestrengten Augen.

Walderlebnis

Helfen bei der Waldarbeit, Walderlebniswochen und Waldschulheimbesuche: Die waldpädagogische Arbeit nimmt nicht nur im Landratsamt Ortenaukreis zu, der Dienststelle des studierten Försters Walter Voß. Im gesamten Schwarzwald steigt in Schulen und Bildungseinrichtungen die Nachfrage nach geführten Touren in unseren Wäldern. In der Ortenau bekommt Waldpädagoge Voss in naher Zukunft Verstärkung von gleich vier neuen Kollegen, die sich mit ihm um das Thema kümmern werden. Interessierte Schulen und Jugendgruppen können sich bei Interesse an ihre Landratsämter wenden.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 21 (4/2020)

Die schönsten Seiten des Schwarzwalds: Mit der Seilrutsche über Wipfel fliegen, mit Freunden an den See und dann den Sommer auf den Teller zaubern...

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

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