Wo Rinder Ferien machen

Marc Böhler ist einer der letzten Weidewarte im Schwarzwald. Bei ihm erleben Kühe aus der Region den Sommer ihres Lebens.  Höhepunkt der Tradition im Münstertal: der jährliche Almabtrieb!

Text: Jana Zahner Fotos: Daniel Schoenen

Dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein: Der Morgen im Münstertal ist so schön, dass selbst Heidi neidisch werden würde. Wir befinden uns aber nicht in den Schweizer Alpen, sondern gut 20 Kilometer südlich von Freiburg im Schwarzwald. Genauer gesagt auf der Hochweide Branden, wo jedes Jahr rund 60 Rinder ihren Sommer verbringen. Doch Anfang Oktober geht es Jahr für Jahr zurück ins Tal. „Kommet se! Kommet se, kooommt“, ruft Weidewart Marc Böhler vor dem geöffneten Weidezaun. Seine Helfer, gut ein Dutzend Treiber, haben sich bereits rundherum postiert. Doch die Kühe rühren sich nicht, protestierendes Muhen ertönt. „Die wollen nicht heim“, sagt Marc Böhler, rückt seinen grauen Lodenhut zurück und betrachtet die Herde mit einem breiten Lächeln. Man kann den Unwillen der Tiere als Kompliment an seine Fürsorge verstehen: Seit Mai hat er die Rinder, die ihm Viehhalter aus dem Münstertal und Region anvertraut haben, umsorgt. Nochmals gellt sein lautes „Kommet se! Koooommt!“ durch die morgendliche Stille. Eine braune Kuh mit untertassengroßen Augen macht den ersten Schritt, ihre Kumpaninnen verlassen ebenfalls die Almwiese. Jetzt müssen die Treiber hellwach sein, damit kein Rind aus der Formation ausbricht. So richtig aufatmen wird Marc erst in ein paar Stunden, wenn jedes einzelne Tier sicher bei seinem Halter angekommen ist …

Wenn der Berg ruft

Seit 30 Jahren feiert die Gemeinde Münstertal beim Viehabtrieb mit anschließendem Volksfest nicht nur die Rückkehr der Rinder in die Ställe, sondern auch ihre Landwirte, die mit ihrer Arbeit den Charakter und die Biodiversität des Münstertals erhalten. Der Großteil von ihnen hält nur eine Handvoll Tiere, die auf den steilen Hängen die Landschaftspflege leisten, an der Maschinen scheitern. Auch Marc ist Bauer im Nebenerwerb, eines Tages wird er den Hof seiner Eltern übernehmen. Seit fast fünf Jahren zählt er zu den letzten Weidewarten im Schwarzwald, der eine Alm betreut. Im Münstertal ist allein die auf dem Branden übriggeblieben – die neun Gemeinschaftswiesen der Gemeinde wurden nach und nach aufgegeben oder privatisiert. Dabei liegen die Vorteile dieser Kooperation auf der Hand: Die Kleinbetriebe sparen Arbeitszeit und Ressourcen, die Jungrinder wachsen auf den großen Flächen zu robusten Milchkühen und Zuchttieren heran.

Marc hat die 55 Hektar große Weide auf dem Branden seit 2020 von der Gemeinde gepachtet. Schon als Teenager hat der Berg ihn gerufen, er verbrachte als Melker auf verschiedenen Almen mehrere Sommer in Österreich und ein Jahr in der  Schweiz. „Wenn man da oben sitzt und die Kuhglocken läuten – das ist das pure Glücksgefühl“, schwärmt der Landwirt. Ähnlich geht es  Marc heute, wenn er abends zu Fuß die Runde macht, um nach den Rindern auf dem Branden zu sehen. Ein Ausgleich für die Arbeit als LKW-Fahrer – aber auch ein Job, der keine Urlaube kennt.

Das jährliche Abtriebsfest ist übrigens Teil seines Pachtvertrags mit der Gemeinde, doch dass die Tradition fortgeführt wird, ist dem Weidewart ohnehin ein Herzensanliegen. Und damit auch dieses Jahr alles sicher über die Bühne geht, gibt Marc an der Spitze der Herde souverän das Tempo vor. Es ist ein bunte Truppe: Von den gescheckten, im Schwarzwald heimischen Hinterwäldern über Allgäuer Braunvieh bis hin zum pechschwarzen schottischen Angus lassen sich alle möglichen Rinderrassen entdecken. Mindestens zehn Monate alt müssen die Jungtiere für den Sommer auf der Brandenweide sein – denn wer die große Freiheit der Alm genießen soll, muss selbstständig weiden und saufen können. Der Weidewart kümmert sich darum, dass immer genug Futter und Wasser aus den Quellen vorhanden ist, was in heißen Sommern manchmal gar nicht so leicht ist …

Die Herde ist in Wallung und trottet munter bergab. Die nächste Etappe wartet, die Koppel am Brandenhof. Dort geht’s in die Maske. Denn bevor der eigentliche Almabtrieb vor Zuschauern losgeht, werden ausgewählte Rinder herausgeputzt. Marc weiß, welche Kuh zutraulich genug ist, um ein buntes Halfter oder Blumenschmuck zu dulden. Die Helfer, selbst Landwirte, bugsieren die Auserwählten in ein Fanggatter, ein Treiber packt die Hörner, der andere dekoriert. Die Kühe schütteln die Köpfe, aber nehmen’s mit Fassung. Unter den Tieren sind übrigens nicht nur Jungspunde, sondern auch ältere Kühe, die sich auf der Alm erholen oder als Landschaftspflegerinnen ihr Gnadenbrot erhalten.

Während die letzten Hornpaare gekrönt werden, füllt sich die Serpentine, die von der Spielwegkapelle hoch zum Brandenhof und den Weiden führt. Viele Zuschauer tragen Dirndl und Lederhose, die ersten Schnäpse fließen. Jetzt geht der Almabtrieb in die heiße Phase. Die Helfer treiben die erste Gruppe Kühe auf die Straße, Der Weidewart geht wieder im Gleichschritt mit den Tieren vorneweg.

Wie Schüler auf Klassenfahrt

Und die Prozession ist schon ein besonderer Anblick: In Grüppchen aufgeteilt und zur Musik einer Blaskapelle ziehen die geschmückten Rinder ins Tal. Die älteren Kühe eher würdevoll schreitend, die Jungrinder einander schubsend wie Grundschüler auf Klassenfahrt. Das Wichtigste: Alle kommen sicher im Tal an, keiner stolpert, erschrickt vor den Zuschauern oder reißt aus. Beim Almabtrieb im Münstertal müssen die Tiere keine so weite Strecke hinter sich bringen wie bei den größeren Events in den Alpen: der Marsch ins Tal ist nach einem knappen Kilometer bewältigt. Dort mündet der Festzug in einer großen Fangkoppel, wo die Herde getrennt und die einzelnen Tiere von ihren Besitzern in Empfang genommen werden. Für die Kühe geht mit der Rückkehr in den Stall ein friedlicher Sommer auf der Alm zu Ende. Und das ist keine Selbstverständlichkeit mehr im Münstertal, seit es Wölfe im Schwarzwald gibt ...

Unten bei der Fangkoppel warten drei Generationen der Familie Zimmermann auf die junge braune Kuh, die heute Morgen als Erste die Almweide verlassen hat und jetzt so zielstrebig in Richtung der parkenden Viehanhänger läuft, dass man gar nicht glauben mag, dass dies ihr erster Almabtrieb ist. „Sie ist ein sehr umgängliches Tier“, sagt Jungbauer Simon Zimmermann sichtlich stolz. Die noch namenlose Braune stammt aus einer vielversprechenden Linie von Milchkühen und wird nach ihrem Sommer auf dem Branden ihr erstes Kalb zur Welt bringen.

Das Thema Weidehaltung und Wolf treibt ihren Besitzer um: Simon ist Herdenschutzberater. Ein Wolfsriss auf dem Branden wäre wohl das Ende der Gemeinschaftsweide und auch für die Tradition des Almabtriebs, erklärt er. Nicht nur, weil der Verlust teurer Zuchttiere eine Katastrophe für die Bauern wäre. Sondern auch, weil Tiere, die einen Angriff überleben, nie wieder so zutraulich werden würden. Ein Volksfest mit hunderten Zuschauern wäre mit solch scheuen Tieren nicht machbar, sagt er und tätschelt seine Kuh, bevor er sie in den Anhänger führt.

Als alle Tiere sicher verladen sind, fällt die Anspannung  von Marc Böhler ab. Alles gut gelaufen! Sein Job als Weidewart ist damit allerdings noch nicht getan: Seine eigenen Tiere dürfen noch etwas länger die Ruhe auf dem Berg genießen, bevor es auch für sie in den Stall geht. Dann wird er den Draht an den Weidezäunen entfernen, damit Wintersportler in den kalten Monaten freie Bahn auf dem Branden haben. Im Frühjahr macht er wieder alles für seine tierischen Gäste bereit. Auch die nächste Generation Münstertäler Rinder soll einen Sommer auf einer Schwarzwaldalm verbringen können, auf die sogar Heidi neidisch wäre ...

Das Tal der hundert Täler

Einst war Münster mit dem Kloster St. Trudpert eine Stadt, heute verteilen sich 5000 Einwohner auf verstreute Siedlungen. Das Münstertal lockt mit schmucken Schwarzwaldhöfen, dem Genießerpfad Belchensteig und am 5. Oktober 2024, 10 Uhr, wieder mit dem Weide-
abtrieb am Branden.

#heimat Schwarzwald Ausgabe 46 (5/2024)

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