Ich hab gar keine Allergie… stört's dich?

Wieso eigentlich hat mittlerweile gefühlt jedes zweite Kindergartenkind eine Nahrungsmittelunverträglichkeit? Darüber wundert sich unser Kolumnist – will damit aber gar nicht über die Kinder schimpfen, sondern vielmehr über die Erwachsenen und ihre kulinarischen Befindlichkeiten. Denn Genuss ist schließlich etwas anderes…

Text: Ulf Tietge · Fotos: Stefan Hilberer

Habt Ihr Kinder? Wenn, kennt Ihr das Thema aus eigener Erfahrung: Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die echten und ernsten, die eingebildeten und vorgeschobenen. Bei meinen Nichten in der Kita gibt es inzwischen mehr Nussallergiker als Vegetarier. Die Kinder leiden unter Laktoseintoleranz und Weizenempfindlichkeit – nur echte Zöliakie ist bisher nie attestiert worden. Das Mittagessen ist so für alle eine herkulische Herausforderung. Fast jedes Kind kriegt eine Extrawurst (auf Wunsch vegan) und wehe, man kommt mit glutenfreien Nudeln oder laktosefreiem Joghurt mal durcheinander.

Als neulich beim Elternabend die Kita-Leitung mit der Idee kam, für weitere Spezialessen ein Attest zu verlangen – holla, war da was los! Schulmedizinischer Chauvinismus! Man wisse doch als aufgeklärter Verbraucher: Wenn einem Käse nicht so gut bekomme, leidet man unter Laktose-Intoleranz! Das kann man online jederzeit und überall nachlesen.

Und natürlich sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten im Kindergarten ansteckend. Jedes Kind will schließlich etwas Besonderes sein und seine persönlichen Mahlzeiten bekommen. Seither kitzeln Nüsse auf der Zunge meiner Nichte, nur nicht in Form von Nutella. Die normale Bio-Milch darf es auch nicht mehr sein – außer es gibt Kakao. Eine Spinat-Allergie ist dagegen total old-school.

Bevor Ihr mich jetzt falsch versteht: Ich schimpfe nicht über Kinder und ihre Essgewohnheiten. Es sind wir Erwachsenen, die etwas falsch machen. Die „sensiblen Esser“ haben sich in unserer Gesellschaft durchgesetzt und tragen ihre kulinarischen Empfindlichkeiten und Absonderlichkeiten wie einen Ausweis von Individualität vor sich her. Klar, dass unsere Kinder so etwas nachahmen.

Könnt Ihr Euch erinnern, vor zehn Jahren beim Grillen mit Gästen auf der Terrasse über Verdauungsvorgänge gesprochen zu haben? Eben. Heute aber muss jeder Nudelsalat seziert werden: Gluten? Sellerie? Vielleicht sogar Ei? Und wenn man dann nach drei Flaschen Wein ein leichtes Unwohlsein verspürt – das müssen die Vorboten einer neuen Unverträglichkeit sein! Vielleicht der Lauch? Die Paprika?

Die Zahl der Konsumenten von Spezialnahrungsmitteln steht inzwischen in einem krassen Missverhältnis zur Zahl der tatsächlich Kranken. Laktosefreie Produkte kauften 2007 nur 6,5 Prozent aller deutschen Haushalte – inzwischen sind es 20 Prozent. In den USA ist dieser Trend noch augenfälliger: 28 Prozent aller Amerikaner kaufen glutenfrei – weniger als ein Prozent der Bevölkerung leidet tatsächlich unter Glutenunverträglichkeit.

Woran das liegt? Ausnahmsweise nicht an TTIP. Gesundheit und Achtsamkeit sind uns so wichtig, dass wir uns furchtbar stressen lassen, um möglichst vielen Attributen gerecht zu werden. Wie steht es um den Blutdruck? Um die Joggingzeit vom Samstag? Um den BMI im Vergleich zum vergangenen Sommer? Und während wir einerseits der Lebensmittelindustrie immer weniger Glauben schenken, fallen wir doch auf deren Marketingsprache herein: fettarm, ohne Geschmacksverstärker und cholesterinreduziert – das ist Neunziger. Gluten-, laktose- und fruktosefrei dagegen – das kann ja nur gesund sein.

Nur: Genuss, meine Lieben, ist etwas anderes. Also lasst Euch nichts einreden und entdeckt Eure #heimat als kulinarisches Schlaraffenland. Gern mit Messer und Gabel – von mir aus aber auch mit den Händen. Hauptsache, Ihr lasst es Euch schmecken!

#heimat Ortenau Ausgabe 4 (2/2016)

Unser Ronny zeigt sich freizügig und erklärt, wie man Limo macht. Die passt gut zu unserem #heimat-Burger mit Bibbeleskäs.

#heimat, der Genussbotschafter für den Schwarzwald 

In der Zeitschrift #heimat geht es um Genuss in der Region, um (kulinarische) Traditionen und gute Adressen, um Manufakturen und Menschen. Idee und Konzept für #heimat stammen von Chefredakteur Ulf Tietge und seinem Team. Das Magazin wurde 2016 mit dem Ortenauer Marketingpreis ausgezeichnet und ist inzwischen bundesweit erhältlich.

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